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Ist die Finanzkrise vorbei? Marc Chesney ist nicht um eine anschauliche Antwort verlegen, als ihm bei einem Podiumsgespräch im Februar diese Frage gestellt wird: «Es ist, wie wenn man mit dem Auto mit zu hoher Geschwindigkeit im Nebel fährt. Der Unfall wird irgendwann kommen.»
Marc Chesney, Professor für Finance an der UZH, ist überzeugt: Die Krise ist nicht vorbei, sondern etwas weniger akut – dafür nimmt sie einen permanenten Charakter an. Noch immer gebe es weltweit rund 30 Banken, die «too big to fail» seien. Sie können weiterhin Risiken eingehen, ohne die Verantwortung dafür tragen zu müssen. Denn sie wissen: Im Notfall werden sie wieder mit Steuergeldern gerettet. «Das widerspricht den Grundprinzipien unserer Ökonomie», sagt Chesney. Wer ist dieser kritische Ökonom, dessen Name immer häufiger in den Kommentarspalten der Zeitungen anzutreffen ist?
Eins wird bei der Podiumsdiskussion wie auch im persönlichen Gespräch schnell klar: Der 57-Jährige ist ein Mann der klaren, aber sorgfältig gewählten Worte. Er hört zu, geht auf Argumente ein. Der französische Akzent lässt seine Worte umso feiner wirken – und verweist gleichzeitig auf seine Herkunft. Aufgewachsen ist Marc Chesney in Paris. Das diskussionsfreudige Elternhaus prägt ihn ebenso wie die Internationalität der französischen Hauptstadt in den 1970er-Jahren. Als jüngstes von fünf Kindern entscheidet sich Marc Chesney für das gleiche Studienfach wie schon zwei seiner Geschwister – die Mathematik. In seiner Jugend ist Marc Chesney politisch interessiert, aber er lässt sich Zeit bei der Meinungsbildung.
Das scheint bis heute zu gelten: Marc Chesney will es nicht besser wissen als andere, er will besser verstehen. So will er etwa die Logik und die Macht des Finanzsektors verstehen und wechselt deshalb während des Studiums von der Mathematik in die Wirtschaftswissenschaften. Für die Dissertation zieht er ein erstes Mal in die Schweiz und beschäftigt sich an der Universität Genf mit komplexen Finanzprodukten. Zurück in Paris, wird er Professor für Finanzwissenschaft und dank seines Fachwissens Leiter eines Forschungszentrums, das sich der Geldwäscherei widmet.
Im Jahr 2003 zieht Marc Chesney ein zweites Mal in die Schweiz. Er wird Professor an der UZH. Je mehr er sein Wissen über den Finanzmarkt vertieft, desto klarer erkennt und kritisiert er dessen Auswüchse. Besonders gefährlich findet er die undurchschaubaren Finanzprodukte, mit denen Grossbanken und Hedge Fonds wie in einem Casino Wetten abschliessen, statt in die Realwirtschaft zu investieren: «Das ist Risikoschöpfung statt Wertschöpfung.»
Aber Chesney bleibt nicht bei der Kritik stehen, sondern zeigt auch Alternativen auf. Die aus seiner Sicht nötige Regulierung des Finanzmarktes etwa soll nicht ausufernd, sondern einfach und effizient sein. Zentrale Punkte dabei: Banken müssen einen Eigenkapitalanteil von 30 bis 40 Prozent aufweisen, und Finanzprodukte sollen sich zertifizieren lassen, um nachzuweisen, dass sie gesellschaftlich und ökonomisch keinen Schaden anrichten.
Ein ebenso einfacher wie radikaler Vorschlag, den Marc Chesney derzeit mit ausarbeitet, ist die Mikrosteuer. Jede elektronische Finanztransaktion, von der Banküberweisung bis zum Aktienkauf, soll mit einem geringen Prozentsatz besteuert werden – beispielsweise 0,2 Prozent. Mit den Einnahmen liessen sich in der Schweiz im grossen Stil andere Steuern reduzieren oder abschaffen. Gleichzeitig würde die Mikrosteuer das Volumen dubioser Finanztransaktionen verkleinern und die Wirtschaft dadurch stabiler werden. «Die Verantwortung für eine nachhaltige Wirtschaft liegt aber nicht nur beim Finanzmarkt, sondern auch bei den Hochschulen», ist Chesney überzeugt.
Nach dem Beginn der Finanzkrise hat er an der UZH zwei Vorlesungen zum Thema «Nachhaltige Finance» mitkonzipiert. Dass immer mehr Studierende sie besuchen, freut ihn. Jetzt überlegt er sich, einen Master-Studiengang oder ein Weiterbildungsangebot zu entwickeln.
Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Verantwortung sind zentrale Werte für Marc Chesney. Das habe nichts mit linker oder rechter politischer Anschauung zu tun, sondern sollte selbstverständlich sein: «Die Aufgabe der Wirtschaft ist es, dazu beizutragen, dass die Menschen ein gutes Leben führen können.» Es ist für ihn problematisch, dass die Chicago-Schule, die eine zügellose Deregulierung der Märkte fordert, in den Wirtschaftswissenschaften quasi ein Monopol des Denkens ausübt. «Es braucht neue Konzepte und Paradigmen in der Ökonomie, damit diese im Dienst der Gesellschaft steht», so Chesney.
Die UZH erlebt er als offen im Denken. Dass er 2015 zum Direktor des Departments of Banking and Finance ernannt wurde, scheint das zu bestätigen. Sein kritisches Denken war kaum der Grund für die Wahl – aber offensichtlich auch kein Hinderungsgrund. Kritik an Auswüchsen des Finanzwesens übe er aber nur in seinem eigenen Namen, betont er. Das ist umso wichtiger, als er derzeit erstmals von der Kritik zur politischen Aktion schreitet. Er hat einen Verein mitgegründet, der eine Volksinitiative für eine Mikrosteuer lancieren will. Parallel dazu startet Chesney demnächst experimentelle Forschung zur Mikrosteuer – gesellschaftlich relevante Forschung.