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Neun Uhr morgens, Kaffee und Guetsli im Café Schurter am Central. Christine Lötscher – wippende Locken, beschwingte Laune, fliegende Gedanken – kommt über ihrem mit einem gefährlich hohen Milchschaumberg dekorierten Cappuccino schnell ins Plaudern. Unterhaltsame Konversation auf intellektuellem Niveau beherrscht und geniesst die Literaturkritikerin ganz offensichtlich. Auf zahlreichen grossen und kleinen Bühnen in Literaturhäusern, an Kulturfestivals und Buchmessen moderiert sie Lesungen und Diskussionsrunden. Sie war Mitglied im Kritikerteam der Sendung «Literaturclub» im Schweizer Fernsehen und in der Jury für den Schweizer Buchpreis.
Ihre erste Moderation ist Christine Lötscher indes als «Riesenkatastrophe» in Erinnerung geblieben. Die Podiumsdiskussion mit vier jungen Autorinnen und Autoren im Literaturhaus Zürich sollte sich um Friedrich Dürrenmatt drehen. Kern des Gesprächs war die Frage, ob ihnen der «grosse Alte» der Schweizer Literatur ein Spiritus Rector sei oder eher ein Übervater, aus dessen Schatten sie heraustreten wollten. Doch entweder waren die Nachwuchsschriftsteller schlecht vorbereitet, oder sie hatten schlicht keine Ahnung von Dürrenmatts Werk: «Jedenfalls gab es keinen relevanten Meinungsaustausch, und irgendwann wusste ich nicht mehr, was fragen.» Die peinliche Situation wurde schliesslich von Hugo Loetscher gerettet, auch er ein grosser Alter, eine intellektuelle Instanz. «Loetscher stand plötzlich aus dem prominent besetzten Publikum auf und begann zu erzählen» – ein glücklicher, ein würdiger Abschluss für einen verkorksten Abend. «Für mich war danach allerdings klar: Das mache ich nie wieder.»
Natürlich ist alles anders gekommen. Die Moderation von literarischen Veranstaltungen gehört mittlerweile zu ihren liebsten Steckenpferden. Der Sprung ins Ungewisse einer Diskussion, «wenn das Gespräch unvorhergesehene Wendungen nimmt», macht ihr heute Freude. Ende Oktober interviewte sie im Rahmen von «Zürich liest» den «Entdecker der Langsamkeit», den Bestsellerautor Sten Nadolny, und diskutierte im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben am Bodensee mit Peter von Matt über dessen neues Buch. Lötscher ist eine Kennerin des Werks des einflussreichen Literaturwissenschaftlers und emeritierten UZH-Professors; bei ihm hat sie 1996 ihre Lizenziatsarbeit geschrieben: «Männertod und Frauentod bei Theodor Fontane». Der bedeutendste deutsche Vertreter des Realismus, erinnert sich Lötscher im Gespräch, lässt (junge) Frauen und (alte) Männer unterschiedlich sterben. Während etwa Effi Briest langsam erlöscht, die gesellschaftlichen Umstände ihr die kindliche Lebenslust rauben, beschreibt Fontane den Tod seines Majors Dubslav aus dem märkischen Adelsgeschlecht von Stech lin als Abschied von einer alten Welt.
Apropos von Matt und Fontane: Dass Lötscher fest verwurzelt im akademischen Betrieb steht und im stillen Kämmerlein über Werke der Weltliteratur, über zeitgenössische Texte, Medientheorie und populäre Genres in Literatur und Film schreibt, hängt sie in der Öffentlichkeit nicht an die grosse Glocke. Dabei hat sie nach Abschluss ihres Studiums in Deutscher Sprach- und Literaturwissenschaft, Allgemeiner Geschichte und Kirchengeschichte an der Universität Zürich und einem erfolgreichen Start in der Zürcher Medienlandschaft (zunächst als Redaktorin bei verschiedenen Regionalzeitungen, dann als Kulturjournalistin beim «Tages-Anzeiger») recht schnell den Weg zurück in ihre Alma Mater gefunden.
2005 nimmt sie eine (mit kleinen Kindern zu vereinbarende) Stelle als Redaktorin bei der Fachzeitschrift «Buch&Maus» an, die vom Schweizerischen Institut für Kinder und Jugendbuchmedien (SIKJM), einem assoziierten Institut der UZH, herausgegeben wird. Am SIKJM lernt Lötscher Ingrid Tomkowiak kennen, UZH-Professorin für Populäre Literaturen und Medien. «Thematisch habe ich mich bei ihr gleich zu Hause gefühlt», sagt Lötscher, «schliesslich habe ich als Teenie hauptsächlich Krimis gelesen und unzählige Fernsehserien geschaut.» Als dann die Fantasy-Welle den Buchmarkt erreicht und «Harry Potter einschlägt wie ein Meteorit», ist Christine Lötschers wissenschaftliche Neugier geweckt: Der moderne Zauberlehrling führt sie als Doktorandin an die UZH zurück. In dem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten und von Professorin Tomkowiak geleiteten Projekt zu fantastischer Kinder und Jugendliteratur und deren Verfilmungen untersucht Lötscher aus kulturwissenschaftlich-medientheoretischer Perspektive eine Reihe von Fantasy-Romanen, darunter Michael Endes Klassiker «Die unendliche Geschichte» und Cornelia Funkes «Tintenwelt»Trilogie. «Dass sich dieses Genre im Kinderzimmer neben Smartphones, Computerspielen, Internet und TV-Serien behaupten kann, zeigt eine gewisse Sehnsucht nach einem vormedialen Paradies», meint Lötscher.
Im Jahr 2014 folgt auf ihre Dissertation im Fach Populäre Kulturen die nächste Anstellung in einem SNF-Projekt. Dringend, sagt Lötscher, müsse sie nun ihre Habilitationsschrift abschliessen, in der sie die Poetik von Unsinn und Materialität in Lewis Carrolls Alice-Büchern untersucht.
Denn seit dem Frühlingssemester arbeitet sie als Fellow der Freien Universität Berlin bereits an einem neuen Thema. Im Rahmen der Kolleg-Forschergruppe Cinepoetics untersucht sie, wie mit aus der Literatur bekannten Verfahren Verstörung und Horror im Film erzeugt werden. Dass Serien wie «Twin Peaks» und «Stranger Things» in ihren ästhetischen Verfahren unter anderem auf Texte der deutschen und der viktorianischen Romantik Bezug nehmen, fasziniert die Literaturexpertin. «Ausserdem darf ich ungeniert meinen zwei grossen Leidenschaften aus Kindertagen – Krimis und TV Serien – frönen und mir im Rahmen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit alle neuen Staffeln anschauen.»
Christine Lötscher lacht herzlich, dann macht sie sich auf den Weg. In der Zentralbibliothek Zürich liegen bestellte Bücher zur Ausleihe bereit. Die Titel: «Poetik der Figur. Zwischen Geometrie und Rhetorik: Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry» und «The Unique Legacy of Weird Tales. The Evolution of Modern Fantasy and Horror».