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Herr Rossfeld vergangene Woche haben Historikerinnen und Historiker an der UZH die Bilanz des gross angelegten Sinergia-Forschungsprojekts zur Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg gezogen. Zum Abschluss der Tagung wurde die «(un)heimliche» Aktualität des Ersten Weltkriegs diskutiert. Worin besteht diese, und weshalb sollten wir uns heute mit dieser Epoche beschäftigen?
Roman Rossfeld: Die Aktualität des Ersten Weltkrieges besteht vielleicht darin, dass wir heute ähnliche gesellschaftliche Problemlagen und politische Entwicklungen wie vor 1914 beobachten können: Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges endete die «Belle Epoque» und eine längere Phase fortschreitender Globalisierung.
Wie hat sich das ausgewirkt?
Der Krieg war verbunden mit einer deutlichen Renationalisierung, einer starken Betonung nationaler Souveränität und einer gegen Ende des Krieges – auch in der Schweiz – schärfer werdenden Überfremdungsdebatte. Die vor dem Krieg weitgehend freie Migration wurde international stark eingeschränkt. In der Schweiz war das Thema der inneren Sicherheit eng mit der Migration beziehungsweise der Unterscheidung in erwünschte und unerwünschte Ausländer verbunden.
Erleben wir heute eine vergleichbare «Renationalsierung»?
Global gesehen bewegen wir uns seit dem Ende des Kalten Krieges wieder auf eine multipolare Welt mit komplexeren Macht- und Bündniskonstellationen zu. Im Gegensatz zum Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Krieg als «reinigendes Gewitter» heute aber hoffentlich keine Option mehr.
Während vier Jahren wurde die Geschichte der Schweiz während des Ersten Weltkriegs nun intensiv erforscht. Wenn Sie Bilanz ziehen: Hat es sich gelohnt?
Bisher gab es nur wenig Forschung zu diesem Thema. Die Beschäftigung mit den beiden Weltkriegen als einer Zeit schwerer Krisen und Konflikte erfolgte in der Schweiz eher unfreiwillig. Deshalb ging es zunächst darum, überhaupt etwas Licht in das Dunkel einer weitgehend vergessenen Zeit zu bringen.
Ist das gelungen?
Die Quellenlage zur Erforschung des «grossen Krieges» ist ausgesprochen gut, die Unterlagen sind inzwischen auch problemlos zugänglich. Ein Blick auf die Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg ist hilfreich, um die weitere Entwicklung des Landes im 20. Jahrhundert besser zu verstehen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der «grosse Krieg» steht am Beginn des «amerikanischen Jahrhunderts». Florian Weber hat in seiner soeben erschienen Dissertation «Die amerikanische Verheissung» nachgezeichnet, wie sich die Schweiz im Verlauf des Krieges vom zunächst bewunderten deutschen Kaiserreich abwendete und seit 1917 zunehmend Anschluss an die USA als kommende Supermacht des 20. Jahrhunderts suchte. Diese Neuausrichtung war wirtschaftspolitisch ausgesprochen pragmatisch, sicherte sie der Schweiz doch die Versorgung mit Getreide und weiteren lebenswichtigen Gütern im letzten Kriegsjahr.
Gibt es weitere Erkenntnisse, die die Zeit in einem neuen Licht erscheinen lassen?
In den nächsten zwei Jahren werden fünf weitere Dissertationen zu so unterschiedlichen Themen wie der humanitären Diplomatie, dem Vollmachtenregime, der Nahrungsmittelversorgung, der Migration oder der Militärjustiz erscheinen. Diese Arbeiten machen – unter anderem – auch deutlich, wie wichtig die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg für Lernprozesse im Zweiten Weltkrieg waren. Die «Anbauschlacht» im Zweiten Weltkrieg, die Einbindung der Sozialdemokraten in die Landesregierung 1943 oder die Einführung der AHV 1948 erscheinen so in einem neuen Licht. Die Forschung zum Ersten Weltkrieg ermöglicht auch ein besseres Verständnis der Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Im Titel der Tagung ist vom «Kleinstaat im totalen Krieg» die Rede, obwohl die Schweiz «neutral» blieb und nicht in den Krieg hineingezogen wurde. In welcher Weise war sie trotzdem davon betroffen?
Wie vielfältig das Land in diesen Krieg verstrickt war, ist bisher unterschätzt worden. Es ist sicher eines der zentralen Ergebnisse dieses Forschungsprojektes, dass es verschiedene Arten gibt, an einem Krieg teilzunehmen oder von ihm betroffen zu sein. In einem zunehmend «total» geführten Krieg war es auch für neutrale Länder nicht möglich, einfach abseits zu stehen. Die schweizerische Neutralitäts- und Aussen(wirtschafts)politik wurde in den Kriegsjahren immer wieder pragmatisch an die wechselnden Bedingungen angepasst.
Was hat das bedeutet?
Die Schweiz wurde rasch in einen zunehmend global geführten Wirtschaftskrieg involviert, und die Uhren-, Metall- und Maschinenindustrie war ein bedeutender Kriegsmateriallieferant. Neben der humanitären Hilfe – wie der Internierung von mehr als 60'000 verwundeten Kriegsgefangenen – machten diese Lieferungen rasch deutlich, wie nützlich die Schweiz für die Kriegsparteien war. Zugleich war das Land eine wichtige Informationsdrehscheibe für die kriegführenden Länder und ein zentraler Fluchtort für (politische) Migranten. Viele Entwicklungen wie die zunehmende Pressezensur, die wachsende Bedeutung der Militärjustiz, die Etablierung eines Notrechtsregimes oder die wachsende Teuerung liefen in der Schweiz ausserdem weitgehend parallel zu den Krieg führenden Ländern.
Die Tagung thematisiert die Geschichte aus einer «transnationalen» Perspektive. Der Blick über den Tellerrand der nationalen Geschichtsschreibung war damit Programm. Was macht diesen Ansatz interessant?
Die Forschung zum Ersten Weltkrieg war lange – auch international – von einer nationalen Perspektive geprägt, die den Blick auf die Entwicklungen in einzelnen Ländern gerichtet hat. Auch vergleichende Arbeiten sind bis heute selten geblieben. Doch gerade für neutrale Länder wie die Schweiz bietet sich eine transnationale Perspektive besonders an, weil sie verhindert, dass das Land als «Sonderfall» oder «Insel» in einem Meer von Blut wahrgenommen wird. Sie legt den Fokus auf die vielfältigen Verstrickungen auch der neutralen Länder in den Krieg.
Neben Schweizer Forschenden traten an der Tagung auch Wissenschaftler aus dem Ausland auf. Gibt es ein internationales Interesse an der Schweizer Forschung zum Ersten Weltkrieg?
Es ist sicher eine der Leistungen des Projektes, die internationale Forschung überhaupt auf die Bedeutung der neutralen Länder im Ersten Weltkrieg aufmerksam gemacht zu haben. Das internationale Interesse an der Schweizer Forschung zeigt sich beispielsweise daran, dass Daniel Marc Segesser von der Universität Bern und ich in den letzten Jahren als Mitherausgeber der neu entstehenden «International Encyclopedia of the First World War» tätig waren. Die Schweizer Forschung wird dadurch mit rund 30 Beiträgen in einem gross angelegten Publikationsprojekt auch international sichtbar. Zugleich wurde ein Beitrag aus dem Projekt im letzten Jahr mit zwei internationalen Wissenschaftspreisen ausgezeichnet. Beides zeigt die internationale Wertschätzung unserer Arbeit; insgesamt kann von einem generell wachsenden Interesse an der Bedeutung der neutralen Länder im Ersten Weltkrieg gesprochen werden. Dazu haben die in unserem Projekt entstandenen wissenschaftlichen Arbeiten sicher beigetragen.