Navigation auf uzh.ch
Der 16-jährige Berner Christian Gerber hat Talent. Als Mittelfeldspieler und Kapitän der Fussballjunioren-Nationalmannschaft will er Profi werden. Doch es kommt anders. Im Sommer schippert er mit dem Boot auf dem Neuenburgersee herum und springt ins Wasser. Er landet auf einer Untiefe und zieht sich eine schwere Halswirbelverletzung mit Lähmungserscheinungen zu.
Ein Schock und ein Trauma für den jungen Mann, der daraufhin seine Fussballerkarriere begraben muss. Christian Gerber wird in der Orthopädischen Klinik in Bern behandelt. Er hat Glück, dass Professor Maurice Müller die schwierige Operation durchführt und ihm gleichzeitig eine ganz neue Lebensperspektive eröffnet. «Die Orthopädie hat mir ein zweites Leben gegeben. Mir war schnell klar, dass ich Medizin studieren wollte», erzählt Gerber heute in seinem Büro in der Orthopädischen Universitätsklinik Balgrist. «Und so wurde ich Arzt.»
Das liegt nun etwa 40 Jahre zurück. Inzwischen leitet Christian Gerber seit 22 Jahren die Universitätsklinik Balgrist und gehört in der Schulter- und Ellbogenchirurgie zur Weltklasse. Er hat etwa 10 000 Operationen durchgeführt, wissenschaftlich geforscht, viel publiziert und war als Universitätsprofessor in Lehre und Ausbildung tätig. Fragt man ihn, was einen guten Mediziner ausmache, wird er ernst: Wichtig sei das Wertesystem; Mediziner müssten gute Dienstleister sein. Sie sind konfrontiert mit Menschen, die Sorgen haben. «Unsere Aufgabe ist es, ihnen zu helfen.» Gerade in der Orthopädie könne man schnell überprüfen, ob eine Operation gut gemacht worden sei oder nicht. Die bildgebenden Verfahren zeigten deutlich, ob man eine Schraube richtig ins Gelenk eingesetzt habe, so Gerber. Bei anderen Disziplinen sei das nicht so offensichtlich.
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, dass in der Orthopädie eher manuelle Fähigkeiten gefragt seien, sei sie ein intellektuelles Fach; es gehe darum, die richtige Operation zum richtigen Zeitpunkt auszuführen. «Das setzt analytische Fähigkeiten voraus.»
Christian Gerber gibt Ende Juli, mit 64 Jahren und nach 22 Jahren Klinikleitung, den Stab weiter an einen seiner Schüler. Sein Nachfolger, Mazda Farshad, ist gerade mal 34 Jahre alt. «Er ist eine Ausnahmeerscheinung», sagt Gerber und nimmt einen Schluck von seinem schwarzen Tee. In seinem Büro steht der Tee immer parat: ein probates Mittel, um die langen Arbeitzeiten mit oft über 70 Wochenstunden bewältigen zu können und immer präsent zu sein. «In meinem ersten Arbeitsvertrag stand: ‹Ihre Arbeitszeit richtet sich nach den Bedürfnissen der Anstalt.› Das war auch nicht gut, aber damals so üblich.» Dass heute die Arbeitszeit aller Mediziner in der Schweiz rigoros auf 50 Wochenstunden begrenzt ist, findet Gerber aber falsch.
Erstens sei nicht bewiesen, dass Ärzte, die 50 statt 80 Stunden pro Woche arbeiteten, weniger Fehler machen. Zweitens sollten diejenigen, die die Medizin weiterbringen und international kompetitiv sein wollen, mehr arbeiten dürfen als jene, die sich ausschliesslich auf die Dienstleistung konzentrierten. Die Ersteren sind konfrontiert mit der Tatsache, dass ihre Konkurrenz, zum Beispiel die Ärztinnen und Ärzte in den USA, weiterhin 80 Wochenstunden arbeiten.
Ohne Flexibilität werde die akademische Schweiz mit solchen stur durchgesetzten Regeln mittel- bis langfristig abgehängt, meint Gerber. Die vielen Grössen aus Sport, Wirtschaft, Kunst und Showbusiness, die er im Laufe seines Lebens kennengelernt habe, hätten eins gemeinsam gehabt: Sie hätten alle sehr viel gearbeitet. «Ich habe noch keinen gesehen, der nur von seinem Talent leben konnte.» Ausserdem müsse man Medizinerinnen und Medizinern die Möglichkeit bieten, neben der klinischen Tätigkeit zu forschen. Das sei nur mit höheren Arbeitspensen möglich.
Christian Gerber hat viel geforscht. Kamen mehrere Patienten mit dem gleichen Leiden zu ihm und gab es dazu weder Literatur noch Hinweise aus dem Kollegenkreis, versuchte er, die dringenden Fragen im Labor zu lösen, oder er probierte schwierige Operationen im Vorfeld an Präparaten aus. «Die Patienten haben mich zum Schulterchirurgen gemacht», sagt er.
Gerade zu Beginn seiner Karriere war die Schulter noch ein relativ unerforschtes Gebiet der Orthopädie. Gerber verbrachte Forschungsaufenthalte in Paris und San Diego, er publizierte viel. Bildgebende Verfahren wie CT und MR verbesserten die Diagnostik, was auch der Forschung Auftrieb verlieh. Als Klinikchef hat Christian Gerber sich für die Zusammenlegung der Traumatologie und der klassischen Orthopädie eingesetzt.
In Zürich ist die Unfallchirurgie am Universitätsspital, die Orthopädie aber am Balgrist beheimatet. Das ist weltweit unüblich und laut Gerber wenig zukunftsträchtig. In diesem Punkt konnte er sich nicht durchsetzen. «Wir akzeptieren diesen Entscheid und werden mit dem neuen, ausgezeichnet qualifizierten Chef der Unfallchirurgie am USZ gut zusammenarbeiten», sagt er. Ende Juli wird Gerber die Klinikleitung abgeben. Er wird weiterhin als Konsiliararzt und als Stiftungsrat der Balgrist-Stiftung tätig sein. «In Klinik und Spital werde ich die gesamte Führungsfunktion abgeben», sagt er. Das eröffne ihm auch neue Tätigkeitsfelder. Fussballspielen gehört nicht dazu. «Ich werde aber oft Velo fahren.»