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Philipp Tingler ist vieles: Ökonom und Doktor der Philosophie, Schriftsteller, Blog-Schreiber, Essayist und Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens, gebürtiger Berliner und Wahlzürcher, Deutscher und Schweizer, Dandy und Fitnessfreak (er selbst beschreibt sich als eine Mischung aus Tonio Kröger, dem Titelhelden aus Thomas Manns gleichnamiger Novelle, und Bud Spencer). Kurzum: ein Intellektueller mit Geschmack und Muskeln – und einem schiefen Lächeln für die hiesige Schickeria.
Nach neun belletristischen Werken ist sein Ruf etabliert als messerscharfer Sezierer einer gesellschaftlichen Schicht von Platinmeilenkarten-Besitzern und Fendi-Taschen-Trägerinnen. In seinen Handbüchern («Stil zeigen», «Leichter reisen», «Das Abc des guten Benehmens») und Online-Kolumnen («Tinglers Fünf» in der «Sonntagszeitung» und im Blog Mag des «Tages-Anzeigers», «Knigge reloaded» im «Migros-Magazin») profiliert er sich zudem als Experte für guten Stil und Umgangsformen.
Zum Gespräch im Kunsthaus-Restaurant Ende Januar erscheint Philipp Tingler gut ge-stärkt (von einem höchstwahrscheinlich exquisiten Lunch in der «Kronenhalle»). Er hat Lust, über seine Studienjahre zu plaudern – «auch wenn das gefühlte 100 Jahre her ist». Reisen wir also ins vergangene Jahrhundert: Im Wendejahr 1989 schreibt sich Tingler an der Universität St. Gallen (HSG) für ein Studium der Wirtschaftswissenschaften ein. Früher als alle anderen Universitäten im deutschsprachigen Raum hat sich die HSG auf die Ausbildung von Topabsolventen im Bereich Wirtschaft spezialisiert. Wenn es eine Institution gibt, auf die das Schlagwort «Kaderschmiede» zutrifft, dann ist es die Ostschweizer Hochschule. Der 19-Jährige Tingler, der ein Stipendium der «Studienstiftung des Deutschen Volkes» hält – einem Begabtenförderungswerk, für das man nominiert werden und ein taffes Auswahlverfahren bestehen muss – ist auf dem besten Weg, auf der Karriereleiter bis ganz nach oben zu klettern. Seinen Auslandsaufenthalt verbringt er an der London School of Economics, einer weiteren Topadresse für Manager von morgen.
Zurück in der Schweiz, verlässt er das beschauliche St. Gallen und wechselt an die Universität Zürich. Auch an der grössten Hochschule der Schweiz geniessen die Ökonomen international hohes Ansehen. Philipp Tingler, ganz Gentleman, lächelt entschuldigend: «Ganz ehrlich: Das war einfach die praktischste Variante, weil ich sowieso schon jedes Wochenende hier war.» Sein Studentenleben in seiner «geliebten Zwingli-Stadt» spielt sich zwischen Hörsaal, Mensa und Kraftraum des ASVZ ab.
Er geniesst die Freiheiten, die das Diplomstudium VWL ihm lässt – und stürzt sich mit Elan in sein prüfungsrelevantes Nebenfach, die Philosophie. Kant, Hegel, Habermas – die grossen Geistesakrobaten des 20. Jahrhunderts haben es ihm angetan.
Bis heute ist Tingler ein theorie- und gedankenhungriger Mensch geblieben. Von Kants «Metaphysik der Sitten» springt er im Gespräch zum anwendungsorientierten Forschungsfeld des Neuromarketings, um gleich darauf einen Satz zu zitieren, den der US-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Gary Becker «irgendwo in diesem Buch geschrieben hat – na, wie hiess es noch? Egal». Im Rückblick ist Tingler froh um seine volkswirtschaftliche Ausbildung: «Schriftsteller sollen sich häufig öffentlich zu ökonomischen Fragen und wirtschaftspolitischen Zusammenhängen äussern, daher bin ich dankbar, dass ich ein wenig Ahnung von der Leitwissenschaft unserer Tage habe.»
Pünktlich zur Jahrtausendwende schliesst er als Lic. oec. mit dem Prädikat summa cum laude ab. Einer seiner wichtigsten Lehrer an der UZH aber ist kein Wirtschafts-wissenschaftler, sondern der mittlerweile emeritierte Philosophieprofessor Helmut Holzhey – «weil er in seinen Seminaren noch den abwegigsten Einfall gelten liess, ohne ihn zwanghaft mit anderen Gedanken zu versöhnen». Bei dem unkonventionellen Kant-Spezialisten und Gelehrten für die Geschichte der Philosophie schreibt Philipp Tingler schliesslich seine Promotion. Der Titel der Doktorarbeit: «Dichtung und Kritik: Thomas Mann und der transzendentale Idealismus». Das Thema: eine umfassende Gegenüberstellung von Thomas Mann und Immanuel Kant.
Als Tingler 2009 seine Promotionsschrift einreicht, hat er sich bereits einen Namen mit journalistischen Beiträgen für Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen gemacht und einige belletristische Werke veröffentlicht. Für vor Sarkasmus triefende Dialoge, für hingebungsvoll auf Pointe gedrechselte Satztiraden voller erfrischender Absurditäten ist er mittlerweile (stadt-)bekannt. Ernst und Melancholie stehen bei ihm gleich neben Witz und Albernheit. In diesem Stil schreibt er dann auch seine Abhandlung zur Erlangung der Doktorwürde: Vom hohen Ton zum unterhaltenden ist es in seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht weit. Sie beginnt übrigens mit den Worten: «Diese Dissertation ist zu nicht unwesentlichen Teilen bei Starbucks an der Bahnhofstrasse in Zürich verfasst worden [...] sowie in den Lounges diverser Flughäfen von Mailand bis Johannesburg, an Bord einiger Interkontinentalstrecken und schliesslich bei Pancakes, Eggs Benedict und endlosen Litern Kaffee in der Polo Lounge des Beverly Hills Hotel.»