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Collegium Helveticum

«Keine Kompromisse»

Thomas Hengartner leitet seit Anfang 2016 das Collegium Helveticum – das Laboratorium für Transdiszplinarität der UZH und der ETH Zürich in der Semper-Sternwarte. Der Volkskunde-Professor strebt nicht den freundeidgenössischen Konsens zwischen den Disziplinen an, sondern den konstruktiven Dissens. Schwerpunktthema der kommenden fünf Jahre sind die Herausforderungen einer digitalen Gesellschaft.
David Werner

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Risiken eingehen, Neues ausprobieren: Thomas Hengartner, Professor für Volkskunde an der UZH, sucht nach unkonventionellen Formen des Dialogs zwischen Technik, Kulturwissenschaften und Kunst. (Bild: Frank Brüderli)

Passantenströme, Baugruben, reger Bahnverkehr – um das Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der UZH herum ist viel Betrieb. Das Institut befindet sich im Cityport, einem glasverkleideten Geschäftshaus an der Westflanke des Bahnhofs Oerlikon. Thomas Hengartner, der derzeit auch noch Leiter des Instituts ist, blickt aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, das er bald räumen wird. Er zeigt auf den Backsteinbau gegenüber, ein Überbleibsel aus dem vorletzten Jahrhundert, einst Teil der heute nicht mehr existierenden Maschinenfabrik Oerlikon.

Hengartner erzählt, wie dieser Bau vor drei Jahren in einer spektakulären Aktion aus seinem Fundament gehoben und um 60 Meter verschoben wurde, um Platz für die Bahnhofserweiterung zu schaffen. 6200 Tonnen gemauertes Industriezeitalter wurden damals Zentimeter um Zentimeter auf Schienen bewegt. Der enorme Aufwand, der für den Erhalt dieses ehemaligen Zweckbaus betrieben wurde, verrät viel über das Bedürfnis nach stadträumlicher Identität in einer Zeit des Wandels.

Mensch und Stadt

Thomas Hengartner ist Stadtforscher. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit dem Wechselspiel zwischen städtebaulicher Entwicklung und der Lebenswelt der Stadtbevölkerung. Er interessiert sich dafür, wie die Menschen ihre künstlich erschaffene Umgebung nutzen und umformen, und wie diese Umgebung sich umgekehrt in den Köpfen der Menschen einschreibt. «Einerseits formt die Stadt die Menschen, die in ihr wohnen, anderseits prägen die Bewohner die Stadt durch die Erwartungen und Deutungen, die sie an sie herantragen», erklärt Hengartner.

Der Sitz der Technik im Leben

Neben der Urbanitätsforschung gehört die kulturwissenschaftliche Technikforschung zu den Spezialgebieten des Volkskunde-Professors. Dabei geht es um die Fragen, wie die Technik zum Menschen und wie der Mensch zur Technik kommt, was Technik und Mensch miteinander machen und nicht zuletzt, welchen Sitz Technik im Leben hat. Für dieses Programm prägte Hengartner den Begriff «kulturwissenschaftliche Technikforschung».

Ermutigt durch den Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den er 2002 erhielt, trieb er diesen Forschungszweig voran. An der Universität Hamburg, wo er bis 2010 seine erste Professur innehatte, gründete der gebürtige St. Galler das Forschungskolleg «Kulturwissenschaftliche  Technikforschung» und engagierte sich für das gemeinsam mit der Technischen Universität Hamburg-Harburg und der Hafencity Universität getragene Graduiertenkolleg «Kunst und Technik». Seither begeistert ihn die fachübergreifende Zusammenarbeit gerade auch mit Kolleginnen und Kollegen aus den Technik- und Naturwissenschaften.

Nicht nur beobachten, sondern mitgestalten

Thomas Hengartner ist überzeugt, dass den Sozial- und Geisteswissenschaften eine wichtige Rolle bei den technischen Neuerungs- und Umwälzungsprozessen der Gesellschaft zukommt. «Sie bringen die Nutzer- und Anwenderperspektive, aber auch diejenige der kritischen Begleitung und Reflexion dieser Entwicklungen ein.» Die Kulturwissenschaften, betont er, dürften sich dabei nicht mit ihrer angestammten Beobachter- und Kommentatorenrolle zufrieden geben, sondern sollten sich aktiv in die technischen Entwicklungsprozesse einbringen.

Die Frage nach den Auswirkungen der Technik auf das Leben sei ebenso wichtig wie die Frage nach der technischen Realisierbarkeit, die in den Ingenieurs- und den Naturwissenschaften dominiere. Bisher, so Hengartner, habe er stets die Erfahrung gemacht, dass die Kolleginnen und Kollegen aus den Ingenieurs- und Naturwissenschaften sehr empfänglich für Anregungen der Geistes- und Sozialwissenschaften seien.

Think Tank in der Sternwarte

Szenenwechsel: Dreizehn Tramstationen vom betriebsamen Bahnhof Oerlikon entfernt, verbirgt sich an steiler Hanglange im Hochschulquartier zwischen verschiedenen Spitalbauten die pittoreske Semper-Sternwarte. Hier ist das Collegium Helveticum domiziliert. Das 1997 gegründete «Laboratorium für Transdisizplinarität» wird seit 2004 gemeinsam von der UZH und der ETH Zürich getragen. «Es gibt nirgendwo bessere Bedingungen für den Dialog zwischen den Fächern und Fachkulturen», schwärmt Hengartner. Er hat sich grosse Ziele gesteckt: Das Collegium soll noch bekannter werden und noch stärker in die Forschung an UZH und ETH hineinwirken. Es soll international als ein Magnet für Forscherinnen und Forscher wirken, und es soll die wissenschaftliche Diskussion mitbestimmen.

Schwerpunkt Digitalisierung

Themenschwerpunkt der kommenden fünf Jahre werden die Herausforderungen einer digitalen Gesellschaft sein. Sowohl an der UZH als auch an der ETH wurden in jüngster Zeit Forschungsnetzwerke zu diesem Thema ins Leben gerufen – die Digital Society Initiative an der UZH und das Institute of Science, Technologie and Policy an der ETH etwa. Hengartners Ziel ist es, das Collegium als Plattform zur Verknüpfung bestehender Netzwerke wie diesen, aber auch der vielen weiteren, weniger gebündelten Aktivitäten zu dieser zentralen Thematik stark zu machen – und so Multiplikationseffekte zu schaffen.

Den Kern des Collegiums Helveticum bilden neben dem Leiter sechs bis acht Fellows. Sie widmen dem Collegium zwanzig Prozent ihrer Arbeitszeit – die Voraussetzung für eine gewisse «Kontinuität des freien Denkens», wie Hengartner sagt. Die Runde der Fellows setzt sich derzeit mehrheitlich aus Professorinnen und Professoren der UZH und der ETH zusammen. Das hat den grossen Vorteil, dass der Think Tank in der Sternwarte als eine Art transdisziplinäre Drehscheibe zwischen den beteiligten Instituten und Laboratorien funktionieren kann. Das Potential der Fächervielfalt der beiden Hochschulen kommt auf diese Weise voll zum Tragen. «Die feste institutionelle Verankerung in gleich zwei renommierten Hochschulen  unterscheidet das Collegium Helveticum von allen anderen Centers of Advanced Studies», sagt Hengartner. «Darin liegt seine grösste Stärke.» 

Kunst bietet Reibungsflächen

Eine weitere Besonderheit des Collegiums Helveticum besteht im Einbezug der Kunst in die transdisziplinären Forschungsprojekte. Bereits unter Hengartners Vorgänger Gerd Folkers arbeitete das Collegium Helveticum mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) zusammen. Diese bisher eher losen Kontakte sollen nun verfestigt und die ZHdK neben der Universität Zürich und der ETH Zürich zum dritten Träger des Collegiums Helveticum werden. Thomas Hengartner freut sich darauf. Was die Begegnung von Kunst und Wissenschaft anbelangt, hat er schon viele positive Erfahrungen gesammelt.

«Die Kunst bietet uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Reibungsflächen, sie drängt uns dazu, unsere Zugangsweisen zur Welt zu hinterfragen, ermuntert uns, Neues auszuprobieren und Risiken einzugehen.» Damit leiste der Dialog von Kunst und Wissenschaft genau das, was bei transdisziplinären Projekten stets das Ziel sei: Methodische Routinen zu durchkreuzen, eingefahrene Denkmuster aufzubrechen, Gewissheiten zu hinterfragen, Türen zu neuen Fragestellungen und Sichtweisen aufzustossen. «Transdisziplinarität», sagt Hengartner, «ist stets ein Experiment mit offenem Ausgang.»

Missverständnisse als Ressource

Während seiner fünfjährigen Amtszeit als Leiter des Collegiums Helveticum möchte Thomas Hengartner die Debatte darüber, was Transdisziplinarität bedeutet und was sie leisten kann, intensivieren und auch in die wissenschaftliche Öffentlichkeit tragen. Eines steht dabei für ihn schon jetzt fest: Das Ziel darf nicht sein, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen. «Der Gesamtklang», so drückt es Hengartner aus, «darf nicht auf Kosten der Stimmenvielfalt gehen.» Helvetische Konsensbereitschaft ist also am Collegium Helveticum gerade nicht gefragt. Die Devise lautet stattdessen: «Keine Kompromisse!» Willkommen sind Widerstände, Reibungen, konstruktive Missverständnisse und wechselseitige Irritationen. «Reibungen sind unsere beste Ressource», sagt Hengartner, «denn sie bergen die Sprengkraft, die nötig ist, um in einem Fach zu neuen Sichtweisen und Fragestellungen zu gelangen.»

Die Ausschreibung für die Fellowships am Collegium Helveticum ist im Mai 2016 geplant.