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Valéry Giscard d’Estaing, der seine Rede in der vollbesetzten Aula mit einem «Grüezi» einleitete, ist längst zu einem Denkmal geworden – zum Denkmal einer Zeit, als die europäische Idee noch in voller Blüte stand. Gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte er als französischer Staatspräsident (1974 –1981) die Bildung eines europäischen Währungssystems vorangetrieben und so der späteren europäischen Einheitswährung den Weg geebnet.
Im heutigen Europa ist vom einstigen Einigungs-Elan wenig übrig geblieben. Das Vertrauen in die Idee einer sich kontinuierlich vertiefenden europäischen Gemeinschaft sei der Enttäuschung und der Konfusion gewichen, konstatierte Giscard d’Estaing in seiner Ansprache an der UZH.
Seit über zwanzig Jahren drehe sich die EU hilflos im Kreis, «ohne Ideen, ohne Methode, ohne Visionen», während die nationalistischen Kräfte in den einzelnen Mitgliedsländern Aufwind erhielten. Der Einigungsprozess sei ins Stocken geraten. Mit der Schuldenkrise komme die EU nur mit äusserster Not zurande, von der Flüchtlingskrise habe sich Brüssel überrumpeln lassen. Das Europa in seiner heutigen Form sei den Herausforderungen der Zeit nicht gewachsen und erweise sich zunehmend als unregierbar, klagte Giscard d’Estaing.
Als Ursache für die desolate Lage nannte der Franzose das ungeklärte Nebeneinander zweier komplett verschiedener Auffassungen über Sinn und Zweck der EU. Für die einen erschöpfe sich das Projekt Europa in der Idee des Freihandels. Danach liege die Aufgabe der EU einzig darin, den europäischen Binnenmarkt funktionsfähig zu halten, wofür ein minimaler politischer Konsens ausreiche. Die anderen – und zu diesen zählte Giscard d’Estaing sich selbst – strebten nach einem politisch vereinten Europa.
Was also ist zu tun? Die Empfehlung, die der französische Ex-Präsident in der Aula der UZH gab, liess an Prägnanz nichts zu wünschen übrig: Es gelte, die beiden europäischen Parallel-Projekte konsequent zu entflechten. Die bestehende, von Brüssel aus gelenkte EU könne sich zukünftig darauf beschränken, gute Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Binnenmarkt zu setzen. Die europäischen Kernstaaten hingegen sollten sich neu formieren, um das europäische Einigungsprojekt fortzusetzen. Giscard d’Estaing plädierte für eine europäische Föderation nach dem Vorbild der USA – mit zwei Hauptstädten, die eine dies- und die andere jenseits des Rheins, nämlich Strassburg und Frankfurt.
Den Brexit wertete Giscard d’Estaing als Chance für eine Klärung der Situation in Europa. Dabei berief er sich auf die berühmte Zürcher Rede Winston Churchills: Der Brite habe zwar zu einer Vereinigung Europas aufgerufen, einen Beitritt seines eigenen Landes aber nicht in Betracht gezogen.
Rückblickend aufs Jahr 1946 würdigte Giscard d’Estaing die Leistungen zur Sicherung des Friedens in Europa. Nun aber gelte es, einen weiteren grossen Schritt zu tun. Europa müsse sich seiner Macht bewusst werden. Um im Wettstreit mit den Wachstumsregionen der Welt mithalten zu können und die zivilisatorischen Werte des alten Kontinents zu verteidigen, sei ein starkes, nach aussen geschlossen auftretendes Kerneuropa unabdingbar.
In Anlehnung an Churchills berühmten Aufruf «Let Europe arise!» schloss Giscard d’Estaing seine Rede mit den Worten: «En avant, EUROPA!»