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Hedi Fritz-Niggli Gastprofessur

«Die Medien definieren das Ich»

Die Soziologin Eva Illouz ist Hedi Fritz-Niggli Gastprofessorin an der UZH. Am 12. Mai spricht sie an der UZH über «sexual relations and the rise of uncertainty». Mit UZH News sprach sie über Kapitalismus im Kino, die neue Ungewissheit in sexuellen Beziehungen und wie die Medien unser Selbstbild prägen.
Interview: Thomas Gull

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Eva Illouz
Untersucht in ihrer Forschung unter anderem das Verhältnis von Emotionen und Kapitalismus: Soziologin Eva Illouz.

 

Frau Illouz: Sie betreuen im Moment am Soziologischen Institut das Seminar «Capitalism and the Movies». Wo begegnen wir im Kino dem Kapitalismus?

Eva Illouz: Üblicherweise deuten wir Filme aufgrund psychologischer und emotionaler Kriterien. Mich interessieren die ökonomischen Aspekte. Denn viele Filme präsentieren bewusst oder unbewusst ökonomische Ideologien.

Können Sie ein Beispiel machen?

Wir analysieren etwa den Film «Chocolat» mit Juliette Binoche und Johnny Depp, in dem Binoche in einem Provinzstädtchen in Frankreich eine Chocolaterie eröffnet und damit das Dorfleben durcheinanderbringt. Diese Geschichte kann man auf verschiedenen Ebenen lesen. Wenn man sie von einem ökonomischen Standpunkt aus betrachtet, repräsentiert Binoche als tüchtige Geschäftsfrau die klassische liberale Ideologie von Freiheit und Markt und bringt damit die Dorfgemeinschaft durcheinander, die bisher von traditionellen und religiösen Werten geprägt war. Der Film sakralisiert die Freiheit, vermittelt durch die kapitalistische Ware Schokolade, die sehr süss und sehr gut ist und die Sinne erfreut. Ausgehend davon verändert sich das soziale Leben im Dorf. Die Menschen wagen mehr zu sein, was sie wirklich sein wollen.

Der Kapitalismus ist also wunderbar?

Sie haben nichts verstanden! Anhand des Films «There will Be Blood» werden wir eine ganz andere Vision des Kapitalismus diskutieren, wie sie von Karl Marx und Max Weber vertreten wird. Der Film erzählt die Geschichte eines Ölunternehmers in den USA, der stiehlt und tötet, um reich zu werden. Da zeigt sich die Kehrseite des Kapitalismus, das Bild, das Marx vom Kapitalismus zeichnet –  gewalttätig und ausbeuterisch.

Der Kapitalismus ist also schlecht?

Ich sage nicht, der Kapitalismus sei schlecht, ich betrachte ihn einfach aus verschiedenen soziologischen Perspektiven. Bei «Pretty Woman» etwa, dieser romantischen Liebesgeschichte, geht es vor allem um den Konsum. Die Prostituierte – gespielt von Julia Roberts – wird zu einer anderen Frau, indem sie sich schöne Kleider kauft. Das zeigt: über den Konsum kann man eine andere Identität annehmen. Mich interessiert hier der Zusammenhang zwischen Identität und Konsum. Wir sind eine Konsumgesellschaft. Weshalb hat der Konsum eine solche Macht, die Identität zu verändern?

Entsprechen ideologische Aussagen, die Sie in den Filmen entdecken, der Absicht der Autoren?

Manchmal kritisieren die Filme direkt und sehr bewusst den Kapitalismus wie etwa «Wall Street», manchmal versteckten sich solche Botschaften in der Geschichte, ohne dass sich die Autoren und das Publikum dessen bewusst sind.

Das Genie der Soziologin entdeckt diese Zusammenhänge?

Das ist keine Frage des «Genies», es ist meine Aufgabe als Soziologin. Wollen wir die Welt besser verstehen, in der wir leben? Die Werte unserer Gesellschaft werden uns von Hollywood, den Medien, dem Fernsehen vermittelt, ob wir das wollen oder nicht. Dieses mediale Umfeld formt unsere Vorstellungen dessen, was ein gutes Leben ist oder eine valable Person. Wir leben unser Leben durch Geschichten. Wenn wir an uns selber denken, denken wir daran, eine bestimmte Geschichte zu leben. Diese Geschichten werden uns heute durch die Populärkultur vermittelt.

Die Populärkultur formt unsere Vorstellungen, auch jene von uns selbst?

Es kann auch noch andere Einflüsse geben, etwa wenn man in einem religiösen Milieu aufwächst, oder wenn man sich mit philosophischen Fragen auseinandersetzt. Es gibt also noch andere Einflussfaktoren. Aber wir alle baden heute in einem Ozean von Bildern, Mythen und Repräsentationen, die von den modernen Medien generiert werden.

Wie wirken sich diese medial vermittelten Rollenbilder auf unser reales Leben aus?

Sie legitimieren die Art, wie wir leben. Denken Sie an die Sexualität. Die Sexualität war in der christlichen Welt tabu. Das heisst, man verstand sich selbst nicht als sexuelles Wesen, Sexualität war nichts Gutes. Im 21. Jahrhundert gab es zwei grosse Revolutionen. Erstens die freudianische, die dafür sorgte, dass man sich nicht mehr für seine Sexualität schämen musste und sie geniessen konnte. Zweitens die Revolution, die durch die Medien vermittelt wurde. Durch sie ist die Sexualität ein Mittel geworden, um sich neu zu definieren. Denken Sie an die Jungen, die andere «sexuell attraktiv» finden. Man spricht nicht mehr von «Schönheit», sondern von sexueller Anziehungskraft. Das ist eine unerschöpfliche Quelle des Konsums. Sexuell attraktiv zu sein und zu bleiben, basiert auf einem Konsum von Gütern wie Kleidern, Sport, Schönheitschirurgie, Schminke, Parfum. Die Medien spielen eine fundamentale Rolle bei der Definition des «Ich». Wenn wir etwas über unsere Identität, unsere Ideale, erfahren wollen, müssen wir uns mit den Medien und ihren Botschaften beschäftigen.

Die Medien sagen uns, wie man sich verhalten soll, wie man auszusehen hat. Sie werden an ihrem Vortrag am 12. Mai in der Aula über Sexualität und Verunsicherung sprechen. Was verunsichert uns denn heute?

Die sexuelle Befreiung hat die heterosexuellen Beziehungen unsicher gemacht. Man weiss heute nicht mehr, was man erwarten kann und wie man sich zu verhalten hat, welches die Spielregeln in einer heterosexuellen Beziehung sind.

War das früher anders?

Ja, es gab beispielsweise das Liebeswerben, das nach klaren Regeln funktionierte. Die heutigen sexuellen Beziehungen sind voller Ungewissheiten.

Weshalb?

Weil die Männer wie die Frauen ihre definierten Rollen verloren haben. Es werden heute widersprüchliche Dinge von ihnen erwartet. Beispielsweise Karriere zu machen und gleichzeitig für die Kinder da zu sein.

Die Anforderungen sind heute sicher komplexer als früher. Wie wird sich das entwickeln?

Ich sehe zwei Tendenzen: einerseits das Modell der männlichen Homosexualität, das sehr egalitär und hedonistisch ist, und Sex unabhängig von Verpflichtungen bietet. Sex dient hier dazu, die Erfahrung seines eigenen Vergnügens zu machen. Ich denke, dass sich auch ein Teil der heterosexuelle Frauen und Männer immer mehr in diese Richtung bewegen werden.

Und die andere Tendenz?

Die Rückkehr zu einem stärker kodifizierten Partnerschaftsmodell mit Heirat oder einen anderen Form stabiler Beziehung.

Man könnte auch versuchen, beides zu leben – verheiratet zu sein und gleichzeitig offen sexuelle Beziehungen zu haben, beispielsweise.

Auch das gibt es natürlich. Dabei geht es darum, eine möglichst grosse Auswahl zu haben. Das ist auch eine Form von Konsum – wir konsumieren Liebe wie andere Dinge auch.