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Eine Tour d’Horizon durch die Krisen der Welt mit Blick auf die EU erlebten am Montagabend die Zuhörerinnen und Zuhörer des Podiumsgesprächs mit Joschka Fischer (67), moderiert von Spiegel-Redakteur Gerhard Spörl. Der deutsche Ex-Aussenminister war einer Einladung des Masterstudiengangs «Applied History» der UZH gefolgt. Der Hörsaal war bis auf den letzten Platz besetzt.
Um welche Brandherde auf der Welt es auch immer ging – Joschka Fischer war um klare Worte nicht verlegen. Zum Beispiel im Hinblick auf das Verhältnis zwischen der EU und Russland. In den Augen des Ex-Aussenministers muss Europa enger zusammenrücken und Profil zeigen.
Es sei eine Illusion zu glauben, dass Russland von seinem Weltmachtanspruch ablassen und stattdessen den Weg zur wirtschaftlichen Integration in Europa einschlagen würde. «Die Eliten Russlands sind nicht an Kooperation interessiert», sagte Fischer, sondern setzten auf Machtpolitik. Dem müssten die Europäer Rechnung tragen. «Das Kalkül, lieb mit Putin zu sein, damit er auch lieb zu uns ist, hat sich als falsch erwiesen». Wer mit Russland kooperieren wolle, müsse selbst Stärke markieren, um vom russischen Bären ernst genommen zu werden.
Die europäische Sicherheit werde nicht nur durch Kooperation gewährt ̶ so wichtig sie auch sei, gab Fischer zu bedenken. Man müsse sich auch die Frage stellen, wie man mit Partnern umgeht, die nicht an Kooperation interessiert sind. «Hier in Zürich ist man weit weg, doch in Warschau stellt sich die Frage ganz dringend und konkret, ebenso in Estland.» Die EU müsse eine gemeinsame Lösung finden, das könne man nicht an die Nato delegieren, sagte Fischer.
Auf die Frage Spörls, wie er Putin charakterisieren würde, entgegnete Fischer zunächst achselzuckend: «Das müssen Sie Gerhard Schröder fragen.» Er hielt aber dann mit seiner eigenen Meinung über den russischen Präsidenten doch nicht hinter den Berg: Der Untergang der Sowjetunion sei für Putin die grösste Katastrophe der jüngeren Geschichte gewesen. Er wolle Russland zu alter Grösse zurückführen und dazu die Zentralmacht stärken, so wie Zar Nikolaus der I zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sein historischer Fehler sei es jedoch, zu glauben, dass Macht auch im 21. Jahrhundert von territorialer Grösse abhänge, sagte Fischer. Ganz im Gegenteil hänge sie heute vor allem von wirtschaftlicher Stärke und gesellschaftlicher Modernität ab.
Grosse Sorgen bereitet Fischer die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten. Der Nahe und Mittlere Osten stelle eine enorme Gefahr für die europäische Sicherheit dar. «Die Konflikte finden direkt vor unserer Haustür statt.» Die Region befinde sich in einem gefährlichen und opferreichen Wandlungsprozess. Die USA würden sich zwar nicht vollständig aus der Region zurückziehen, seien aber auch nicht mehr gewillt, die Rolle des externen Hegemons zu spielen. «Die regionalen Mächte werden die Probleme dort selbst ausfechten müssen.» Saudiarabien und Iran seien die grossen Aspiranten auf regionale Vorherrschaft. Keiner der beiden könne jedoch den anderen besiegen, das spreche für eine lange und schwierige Entwicklung.
In diesem Zusammenhang kam Fischer auch auf die Flüchtlinge zu sprechen, die es aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika nach Europa zieht. Europa müsse sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sie mit Flüchtlingen umgehe. Auch Afrika gehöre zu unserer Nachbarschaft, das Potential dieses Kontinents werde oft unterschätzt. «Die EU ist kein Friedensprojekt von gestern», sagte Fischer und sprach die Schweiz direkt an: «Auch ihr Schweizer seid gut beraten, wenn ihr versteht, dass ihr mitten in Europa lebt. Denn die Probleme Europas werden selbstverständlich auch die Schweiz in einem Masse betreffen, wie sich das heute nur wenige vorstellen können.»
Ein überzeugter Europäer sei jemand, der aus der Erfahrung der Vergangenheit heraus über den Nationalstaat hinausdenke, sagte Fischer. Der kalte Krieg werde oft vergessen, wenn von den grossen Tragödien des letzten Jahrhunderts gesprochen würde. «Denken Sie nur an Polen, für dieses Land war das Drama mit dem 8. Mai 1945 nicht zu Ende, es fand sich auf der falschen Seite des eisernen Vorhangs wieder und musste jahrzehntelang für die Eigenständigkeit kämpfen.»
Im Westen entstand dagegen ein neues politisches System, das auf Integration gründete. Es ging nicht um das Gleichgewicht der Kräfte, sondern um den Prozess des Zusammenfindens. Die Menschen, die diesen Prozess des Zusammenfindens vorantreiben, würde er als überzeugte Europäer bezeichnen, sagte Fischer und konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen: «Diese Überzeugungseuropäer sind das Gegenteil von dem, was Herr Blocher ist».
Einen aktuellen Bezug zur Schweiz enthält auch das neue Buch Fischers mit dem Titel «Scheitert Europa?». Der Politiker beschreibt darin die Schweiz als Modell für Europa. Er fände es faszinierend, so Fischer, dass die Schweiz es schaffe, trotz verschiedener Sprachen und Kulturen so gut zu funktionieren.
Die Schweizer Geschichte enthalte eine Lehre für das heutige Europa, das mit der Frage ringe, wie viel Selbständigkeit aufgegeben werden muss, um handlungsfähig zu werden. Fischers These: Wenn sich in der Schweiz nach der Napoleonischen Ära diejenigen Kräfte durchgesetzt hätten, die für einen losen Staatenbund und gegen den Bundesstaat waren, hätte die Schweiz das 19. Jahrhundert als eigenständiges Staatswesen nicht überstanden.
Die einzelnen Nationalstaaten könnten im 21. Jahrhundert ihre Interessen besser in einem gemeinsamen Europa vertreten als allein, sagte Fischer. Um die Europäerinnen und Europäer aber davon zu überzeugen, brauche es gute Argumente. Der Heilige Geist werde nicht eines Tages kommen, und auf einmal würden alle Menschen die EU-Kommission als europäische Regierung akzeptieren. Der Nationalstaat sei und bleibe der Bezugsrahmen der Bürgerinnen und Bürger, allein schon wegen ihrer Sprache und nationalen Geschichte. «Wenn Vielfalt Europa ausmacht, dann müssen wir diese Vielfalt in einer politischen Union auch abbilden.»