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Nach dem Aufwachen musste Irma Endres jeweils zuerst die Herdplatten einschalten, um die Raumtemperatur von 13 auf 16 Grad zu erhöhen. Das Zimmer im Studentenhaus im russischen Novosibirsk war kaum geheizt. Es war nicht die einzig nötige Umgewöhnung für die junge Russistikstudentin während ihres Austauschjahres. So dauerte es lange, bis sie jemand aufklärte, dass es unhöflich sei, wenn sie als Frau zum Abschied einem Mann die Hand reiche.
Für Irma Endres hat sich der Aufenthalt aber gelohnt, zumal sie heute – 20 Jahre später – als Trainerin für Transkulturelle Kommunikation tätig ist. Auf Einladung der Abteilung Internationale Beziehungen der Universität Zürich bot sie kürzlich für Mitarbeitende der UZH den Workshop «Interkulturelle Sensibilisierung» an. Dabei wurde diskutiert, worauf im Umgang mit Gaststudierenden und -forschenden zu achten ist.
Irma Endres konnte dabei nicht nur aus ihren eigenen Erfahrungen in Auslandaufenthalten schöpfen. Als Dozentin und Ansprechperson für ausländische Studierende an den Universitäten Basel und Luzern hat sie auch die Gastgeberseite des kulturellen Austausches kennengelernt.
Die Forschungsliteratur und die Erfahrung von Irma Endres stimmen überein: Bei einem Aufenthalt in einer fremden Kultur durchleben Menschen meist bestimmte Phasen. Es beginnt oft mit einer Phase der Euphorie. Kulturelle Unterschiede werden dabei als tolle, exotische Bereicherung erlebt.
In einer zweiten Phase werden dieselben Unterschiede plötzlich als anstrengend und oft negativ wahrgenommen. «Das hängt damit zusammen, dass man den Bonus nicht mehr hat, fremd sein. Die Umgebung erwartet jetzt, dass sich die fremden Gäste auskennen. Und man erwartet es auch von sich selbst», so Endres.
Bei Schwierigkeiten der Akklimatisation stünden oft kleine, sich wiederholende Alltagsprobleme im Vordergrund – etwa in Bezug auf das Essen oder das Klima. So erlebte Endres an der Universität Basel einen afrikanischen Austauschstudenten, der immer dünner wurde, weil ihm das von zuhause vertraute Morgenessen mit den Mitstudierenden und das strukturierte Campusleben fehlte. In Basel gab es weder einen Campus noch eine Mensa, die schon frühmorgens geöffnet war.
Auch der «unsichtbare Energieaufwand», der bei der Bewältigung des Alltags in der Fremde nötig sei, zehre an den Kräften. Zu Beginn sei die ganze Umgebung unvertraut – von den Abläufen an der Universität über die Sprache und dem Ticketautomaten am Bahnhof bis zum Geruch der Stadt. Gerade der Geruchssinn aber sei in unserem Gehirn am direktesten mit dem Gefühlszentrum verbunden: «Vertraute Gerüche tragen viel dazu bei, dass wir uns zuhause fühlen», so Endres.
Bei einem längeren Auslandaufenthalt erlebten die meisten Menschen eine Art Kulturschock. Ein solcher könne verschieden ausgeprägt sein und die Betroffenen bisweilen heftig reagieren lassen: «Wer das Gefühl hat, dauernd alles falsch zu machen, reagiert eher depressiv. Wer den Eindruck hat, das Gegenüber mache immer alles falsch, reagiert eher aggressiv.»
In den meisten Fällen erleben Reisende zwischen den Kulturen glücklicherweise nach der Entfremdung die nächste Phase – diejenige der Verständigung: Missverständnisse werden erkannt und geklärt, Fremdes wird langsam vertraut und es findet eine psychische Erholung statt. Hilfreich sind dabei positive, oft wiederum kleine Alltagserlebnisse: Auf der Strasse wird man freundlich gegrüsst, man wird zu einem Essen eingeladen oder erkennt, was man schon alles gemeistert hat in der fremden Kultur.
Wie sollen sich Mitarbeitende von Universitäten gegenüber Gästen aus dem Ausland verhalten, um ihnen die kulturelle Akklimatisierung zu erleichtern? Von strengen Verhaltensregeln hält Endres wenig. Nur in Ich-Botschaften sprechen, wie das die Kommunikationspsychologie empfiehlt? «Genau dies kann zu Missverständnissen führen», so Endres. In der westlichen Welt würden Wir-Botschaften oft so interpretiert, dass jemand nicht zu seiner Meinung stehen will. Im asiatischen Raum aber sei das Sprechen in der Wir-Form Ausdruck von Respekt gegenüber anderen Personen, die bei einer Angelegenheit mitbedacht werden müssten.
Es gehe in der Begegnung mit Gästen aus anderen Kulturen nicht darum, von morgens bis abends nur verständnisvoll zu sein und sich anzupassen, sagte Endres: «Wenn wir uns dauernd anpassen, weiss das Gegenüber gar nicht, wer wir wirklich sind.» Ziel müsse es sein, neue Handlungsmöglichkeiten in schwierigen Situationen zu erlangen. Dies gelinge, indem man sein eigenes Verhalten und dasjenige des Gegenübers beobachtet und andersartige Muster zu verstehen versucht: Wie verhalte ich mich? Durch welche Brille betrachte ich die Welt? Der nützlichste Gedanke für beide Seiten sei dabei: «Eine fremde Kultur ist nicht gut oder schlecht, sondern anders.»
Wer schwierige Situationen mit mehr Abstand betrachtet, kann im Konfliktfall gelassener reagieren. So kann der Auslandaufenthalt für beide Seiten zu einer Bereicherung und einem Lernfeld werden. Die Gäste sollten allerdings auch nicht vergessen, sich mental auf die Rückkehr in die Heimat vorzubereiten. Auch dann kann ein Kulturschock auftreten – wenn einem die eigene Kultur fremd geworden ist und die Daheimgebliebenen das Erlebte nicht nachvollziehen können.
Die Abteilung Internationale Beziehungen der UZH plant, Workshops zur «Interkulturellen Sensibilisierung» für Austauschstudierende an der UZH anzubieten.