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Die Hände würden Rektor Michael Hengartner wohl ziemlich weh tun, wenn er alle 3500 Ersemestrigen persönlich begrüssen würde, die heute an der Universität Zürich (UZH) zu studieren beginnen. Genau dies tut sein Vorgänger vor über 180 Jahren. Als die Universität Zürich 1833 ihre Tore zum ersten Mal öffnet, heisst Lorenz Oken die Neuankömmlinge per Handschlag willkommen – damals weit weniger aufwändig als heute, denn nur 161 junge Männer nahmen das Studium auf.
Einer von ihnen ist der 19-jährige Jakob Kündig aus Bauma. Der Sohn des Landwirts, Gemeindeammanns und Kantonsrats will Medizin studieren.
Doch wo kann er sich überhaupt an der gerade erst gegründeten Universität einschreiben? Das heutige Hauptgebäude an der Rämistrasse gibt es noch nicht. Jakob muss das sogenannte «Hinteramt» am Fröschengraben suchen. Es liegt im Augustinerkloster zwischen der Augustinerkirche und der heutigen Bahnhofstrasse. Dort schaut sich Jakob um.
Vier Hörsäle entdeckt er im Hinteramt, drei andere in der Fraumünster-Schule und einen noch im Chorherrengebäude. Mehr gibt es nicht. Die Dozenten haben keine eigenen Räume. Ihre Studenten empfangen sie für Sprechstunden bei sich zuhause. Ob dabei Kaffee und Kuchen serviert wird, hängt von den Küchenkünsten der Dozentengattin ab.
Zur Immatrikulation wird Jakob zum Rektor gebeten. Lorenz Oken, der erst kürzlich aus Heidelberg berufen worden war, begrüsst ihn freundlich. Jakob muss ihm feierlich und mit Handschlag versprechen, dass er der Universität keine Schande oder Ungemach bereiten, Gehorsam leisten und jener Besonnenheit und Redlichkeit im Lebenswandel beflissentlich nacheifern werde, «welchen nachzueifern einem jungen Studenten geziemt», so heisst es in seiner Immatrikulationsurkunde. Der junge Student erhält sie in lateinischer Sprache mit der Unterschrift des Rektors und dem Siegel der Hochschule. Mit der Immatrikulation an der Universität wird er zu einem ihrer Mitglieder.
Ob Jakob seine schöne und auf bestem Papier gedruckte Urkunde wohl in seinem Zimmer an die Wand nagelt? Das hängt vom Wohlwollen seiner Vermieterin ab. In der Regel logieren die Studenten zur Untermiete bei Zürcher Bürgern. «Schlummermütter» vermieten gern an die jungen Akademiker, die stets gut angezogen sind und vielleicht sogar etwas akademischen Glanz ins Haus bringen.
Frauen gibt es zu Jakobs Studienzeit gar nicht, weder Studentinnen noch Dozentinnen sind zugelassen. Der 19-jährige Jakob ist einer von 161 Erstsemestrigen: Mit ihm beginnen 16 Theologen, 26 Juristen, 98 Mediziner und 21 Philosophen das Studium. Damals gibt es an der Universität Zürich nur vier Fakultäten.
Jakob und seine Mitstudenten treffen auf – aus heutiger Sicht – traumhafte Betreuungsverhältnisse: Auf 161 Studenten kommen 46 Dozenten: 18 Professoren und 28 Privatdozenten, die im Sommersemester 1833 zusammen 105 Vorlesungen halten. Freiwillige Lehrkräfte sind zahlreicher als die besoldeten. Die Dozenten ohne Lohn sind junge Gelehrte, die sich zum akademischen Lehrer ausbilden lassen wollen.
Jakob blättert im Vorlesungsverzeichnis, das in deutscher und lateinischer Sprache vorliegt. Die Dauer des Sommersemesters wird von Ostern bis Michaelis angegeben. Die Veranstaltungen, die er besuchen möchte, kann er sich selbst zusammenstellen. Über das heutige Modulbuchungssystem hätte Jakob sich sicher gewundert.
Als Medizinstudent sucht Jakob das «medizinisch-chirurgische Institut» auf. Vielleicht wird er auf seinem Weg zu den Vorlesungen von einem edlen Jagdhund begleitet, der auch im Hörsaal Platz nehmen darf. Mit Hund zu erscheinen, gilt in dieser Zeit unter den Studierenden als cool.
Ob Jakob auch sein Studentenleben geniesst und durch «flotte Kneiperei» auffällt, wissen wir leider nicht. Eine organisierte Studentenschaft gibt es 1833 noch nicht. Erste Studentenversammlungen sind aber bereits zu Beginn des Wintersemesters 1833/34 nachgewiesen.
Doch bei aller Unterschiedlichkeit: Jakob ist, wie heutige Studierende auch, mobil. Nach vier Semestern an der UZH wechselt er an die Universität Heidelberg, die anders als Zürich, auf eine lange Tradition zurückblicken kann – sie existiert seit 1386. Doch dann stirbt Jakob, im Jahre 1838, mit erst 24 Jahren, in St. Gallen. Über die Gründe können wir nur spekulieren.
In den letzten hundert Jahren hat sich nicht nur das Leben an der Universität grundlegend geändert, sondern auch die technischen Möglichkeiten sind völlig neu. So braucht Michael Hengartner heute nicht mehr 3'500 Hände zu schütteln, um die Erstsemestrigen zu begrüssen. Er macht das online und per Video.