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Entwicklungspädiatrie

Frühe Geburt, späte Folgen?

Die heutige Spitzenmedizin ermöglicht das Überleben von extrem kleinen Frühgeborenen. Über die langfristige Entwicklung von Frühgeborenen sprach Bea Latal, Pädiaterin am Kinderspital Zürich, in der Veranstaltungsreihe «Wissen-schaf(f)t Wissen». 
Magdalena Seebauer
Pädiaterin Bea Latal (links) mit ihrem Schützling Sarah Benz, die vor 22 Jahren als Frühgeburt zur Welt kam. (Bild: Max Gassmann)

Frühgeborene, die kaum pfundschwer auf die Welt kommen, sorgen für Schlagzeilen. Wenn auch der Frühstart ins Leben vorerst geglückt ist, bleiben noch viele offene Fragen über den weiteren Verlauf. Welche Folgen können in der kognitiven, sprachlichen und motorischen Entwicklung auftreten? Wie werden diese Kinder am besten gefördert? Wie ist ihre Lebensqualität?

Bea Latal, Co-Leiterin der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, beschäftigt sich vor allem mit jenen Frühgeborenen, die weniger als 32 Wochen im Mutterleib verbracht haben. Die Grenze der Überlebensfähigkeit wird bei den heutigen medizinischen Möglichkeiten bei 24 Wochen angesetzt.

Auch in der Schweiz werden immer mehr Kinder zu früh geboren. Zurückzuführen ist dies laut Latal darauf, dass Frauen heute immer später Kinder bekommen und immer häufiger die Möglichkeiten der medizinisch unterstützten Fortpflanzung in Anspruch nehmen. Beides Faktoren, die mit einem erhöhten Risiko für eine Frühgeburt verbunden sind.

Das Gehirn – ein besonders verletzliches Organ

Je früher ein Kind auf die Welt kommt, desto unreifer sind die Organe. Besonders betroffen sind die Lungen, der Darm, die Haut und die Augen. Und natürlich das Gehirn: Nach ungefähr 20 Schwangerschaftswochen entwickelt es sich von zwei anfangs glatten Gehirnhälften zu einem sehr komplexen Geflecht mit einer Vielzahl von Strukturen. «Man kann sich vorstellen, dass das Gehirn in dieser Phase ein besonders verletzliches Organ ist», erläuterte Latal.

Dennoch sind schwere geistige oder körperliche Behinderungen zum Glück auch bei sehr kleinen Frühgeborenen relativ selten. Wenn es auch weniger als zehn Prozent betroffen sind, ist dies doch deutlich mehr als bei termingeborenen Kindern. «Wir Fachpersonen und auch die Eltern bemerken meist recht früh, dass etwas Wesentliches in der Entwicklung nicht gut läuft», sagte Latal. So wird ein Grossteil der schweren Beeinträchtigungen im ersten oder zweiten Lebensjahr diagnostiziert.

Leichtgradige Störungen treten wesentlich häufiger auf und können in vielen Entwicklungsbereichen vorkommen. Dies betrifft vor allem motorische Ungeschicklichkeit, Lernprobleme oder Hyperaktivität. Die Schwierigkeit sei, dass dies nicht so leicht erkennbar ist, wenn das Kind noch klein ist, berichtete Latal. Typischerweise bemerke man es erst im Kindergartenalter, wenn die Anforderungen steigen. Die Kinder sollen dann zeichnen und basteln und müssen sich in eine Gruppe einfügen.

Von der Frühgeborenenstation an die Universität

Wie die Entwicklung eines frühgeborenen Kindes verlaufen kann, schilderte dann Latal sehr eindrücklich anhand der Geschichte von Sarah Benz, die heute 22 Jahre alt ist und an der Veranstaltung anwesend war. Sarah Benz wurde in der 31. Schwangerschaftswoche – also zwei Monate zu früh – geboren. Sie litt unter einem Atemnotsyndrom wegen ihrer unreifen Lunge. Der Hirnultraschall war zu diesem Zeitpunkt unauffällig. Später entwickelte sich bei Sarah jedoch eine spastische motorische Bewegungsstörung. Sie lernte erst mit fünf Jahren mit Hilfe eines Lern-Laufwagens zu gehen.

Sarahs geistige Entwicklung war normal, und so wurde sie mit sieben Jahren in der Regelschule eingeschult. Die Integration in der Primarschule war relativ einfach. Die anderen Kinder akzeptierten sie in ihrer Andersartigkeit. Doch während der Pubertät wurde dies deutlich schwieriger. Sarah fühlte sich ausgeschlossen und hatte wenig Kontakt mit Gleichaltrigen. Sie verfolgte jedoch zielstrebig ihren Weg und machte die Matura. Heute ist sie eine fröhliche, offene junge Frau, die an der Universität Bern Geschichte studiert, auch wenn sie auf den Rollstuhl angewiesen ist.

Die Forschung ermittelte Risikofaktoren

Was weiss man aus der Forschung über den Entwicklungsverlauf von Frühgeborenen? Ein Grossteil der Erkenntnisse stammt aus den Zürcher Longitudinalstudien, die der Pädiater Remo Largo am Kinderspital Zürich initiierte. Dabei ging es primär um die Entwicklung normalgeborener Kinder. Dann kam das Thema der Frühgeburtlichkeit dazu. Inzwischen wurde eine beachtliche Anzahl Kinder seit der Geburt bis ins Erwachsenenalter beobachtet. Untersucht hat man Bereiche wie Wachstum, Sprache, Motorik, logisches Denken und Verhalten. «Schlussendlich kann die Forschung jedoch nur Anhaltspunkte geben. Im Einzelfall ist die Prognose immer schwierig», betonte Latal.

Gesichert ist: Je jünger ein Kind auf die Welt kommt, desto eher kann es unter einer Beeinträchtigung in einem oder mehreren Bereichen leiden. Hirnverletzungen, männliches Geschlecht, schwere Infektionen oder chronische Lungenerkrankungen in der frühen Neugeborenenzeit sind weitere Risikofaktoren. Daneben ist das soziokulturelle Umfeld, in dem das Kind aufwächst, mindestens so entscheidend für die Entwicklung. In welchen finanziellen Verhältnissen wächst das Kind auf? Hat es Freunde und ist es in einer Gemeinschaft integriert? Lebt es in einem rigiden schulischen Umfeld, in dem kaum auf die besonderen Bedürfnisse des Kindes Rücksicht genommen wird oder sucht man nach individuellen Lösungen, die ermöglichen, dass es sich entfalten kann?

Die individuellen Stärken fördern

Latal sieht es denn auch als einen wichtigen Teil ihrer Arbeit an, Gespräche mit Lehrpersonen, Schulleitungen und anderen Akteuren des Bildungssystems zu führen. Sie freut sich über jeden Erfolg, wenn sie für eine oder einen ihrer Patienten das Tor zur passenden Bildungsmöglichkeit öffnen konnte. So insbesondere auch bei Sarah, die sie beispielsweise bei den Vorbereitungen für ihren Sprachaufenthalt in Kanada unterstützte.

«Jedes Kind in seinen individuellen Stärken zu fördern, muss im Zentrum stehen», betont Latal. Dazu sei eine gute Zusammenarbeit von Eltern und Fachpersonen notwendig. So könne auch nach einem schwierigen Start eine gute Lebensqualität erreicht werden.