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Lehrpreis 2014

Der Bahnhofsvorleser

Um Forschung und Lehre enger miteinander zu verzahnen, hat der Linguist Heiko Hausendorf eine mobile Vorlesung am Hauptbahnhof Zürich gehalten. Seine innovative Idee wurde am Dies Academicus mit dem Lehrpreis 2014 gewürdigt.
Alice Werner
Auf Beobachtungsposten im Zürcher Hauptbahnhof: Der Linguist Heiko Hausendorf forscht zu Textualität im Alltag und Interaktion an öffentlichen Plätzen. Der Anschaulichkeit halber gibt er Vorlesungen vor Ort.

Eine Vorlesung am Zürcher Hauptbahnhof? Am grössten Tummelplatz der Stadt? Eine Vorlesung ausserdem, bei der es explizit ums Beobachten und Belauschen von Reisenden, Bahnhofspassanten, Urlaubern geht – und zwar möglichst unauffällig und mit technischer Unterstützung einer funkbasierten Sprechanlage. Ist das noch Universität oder schon Undercover-Aktion? Ein wissenschaftlicher Lauschangriff? Getarnte Ermittlung oder verdeckte Feldforschung? Heiko Hausendorf lacht. «Ich musste tatsächlich im Vorhinein klären, wie weit ich gehen kann, ohne kriminell zu werden.» Ein Professor, der so etwas sagt, bewegt sich nicht auf ausgetretenen Pfaden.

Ein Fan seines Fachs

Wir treffen uns in seinem Büro im Deutschen Seminar. Seit 2007 hat der gebürtige Westfale den Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft inne, seit letztem Jahr ist er Co-Leiter des universitären Forschungsschwerpunkts «Sprache und Raum». Er hat sich auf das Treffen vorbereitet, genügend Zeit eingeplant, Kaffee organisiert. Eine gute Atmosphäre, eine Gesprächskultur, ist ihm wichtig, ob im Hörsaal oder in einer Interviewsituation. Wenn er in den nächsten anderthalb Stunden mit munter vorantrabender Stimme über seine ‹Bahnhofsvorlesung› erzählt, dann weniger als routinierter Universitätsprofessor, eher als Fan seines Fachs. Als einer, der sich aller Kompetenz und Kenntnisse zum Trotz die Neugier eines Anfängers bewahrt hat.

Dass in seinen Lehrbeurteilungen regelmässig Adjektive wie «inspirierend», «leidenschaftlich» und «mitreissend» auftauchen, verwundert nicht. Mit seiner «unterhaltsamen Vortragsart», seiner «absolut guten Didaktik», seinem «nötigen Feingefühl, den Dingen auf den Grund zu gehen», vor allem aber wegen seines «Talents, differenzierte und abstrakte Inhalte anschaulich zu vermitteln», gilt er unter seinen Studierenden sicherlich schon seit längerem als Favorit für den jährlichen Lehrpreis der UZH.

Nun hat es mit der Würdigung geklappt: Entsprechend des diesjährigen Mottos «Lehren und Lernen ausserhalb von Hörsaal und Seminarraum» ist Heiko Hausendorf am Dies academicus für seine innovative Veranstaltung «Linguistik der Kommunikation. Sprechen und Zuhören, Lesen und Schreiben» mit dem Lehrpreis 2014 ausgezeichnet worden.

1.-Klasse-Vorlesung

In seinem Büro, einem Bücherreich, legt Hausendorf jetzt ein paar ausgedruckte Fotos auf den Tisch. Zu sehen ist die mechanische Anzeigetafel in der Querhalle des Hauptbahnhofs, die Uhr zeigt kurz nach acht am Morgen. Umringt von 25, 30 Studierenden gibt Hausendorf eine kurze Einführung in Thema und Theorie an diesem Tag und erklärt dann die jeweils anstehende «teilnehmende Beobachtung», wie es in der Methodik der Sprach- und Sozialwissenschaften heisst. Studiert und dokumentiert werden sollen alltägliche Phänomene von face-to-face Interaktion auf öffentlichen Plätzen. Zum Beispiel: Wie begrüssen und verabschieden sich Menschen? Wie funktioniert Schlange-Stehen? Und wie lange darf man jemanden eigentlich ansehen, ohne dass der Blickkontakt als Interaktionsaufforderung wahrgenommen wird?

Per Mikrophon und Kopfhörer dirigiert Hausendorf die Teilnehmenden durch den vorher dramaturgisch festgelegten Beobachtungsparcours und kommentiert quasi live – vor Ort und in Echtzeit – linguistisch Sehens- und Hörenswertes. Ungeplante Situationen und Überraschungen bleiben dabei nicht aus, etwa wenn sie selbst Aufsehen erregen, als «merkwürdiges Rudel». Dann gilt es, spontan zu reagieren und gleichzeitig die eigene kommunikative Rolle zu reflektieren. Lebensnaher können theoretische Denksysteme wahrscheinlich nicht vermittelt werden.

Gemeinsames Erleben von Forschung

Den laut Studierendenaussagen ausserordentlichen Lerneffekt dieser «genialen Vorlesung» begründet der Sprachwissenschaftler folgendermassen: «Die affektiven Momente, die wir bei diesen Versuchen vor Ort geteilt haben, haben uns allen die Beziehung von Theorie, Wissenschaft und alltäglichen Vorgängen noch einmal deutlich bewusst gemacht.» Dieses gemeinsame Erleben von Forschung könne man selbst durch Video- und Tonaufzeichnungen im Hörsaal nicht imitieren. Jeweils den ersten Teil seiner Vorlesungsstunden führte Hausendorf zwischen Gleisanlage und Bahnhofshalle durch, bevor es anschliessend für die zweiten 45 Minuten in den Hörsaal ging.

Erst praktische Feldforschung, dann theoretische Reflexion und Vertiefung des Stoffs. Wie kam er auf die Idee, sich in ein solches Experiment zu stürzen? Heiko Hausendorf muss nicht lange überlegen, er sagt rundheraus: «Ich hatte einfach keine Lust, abgehangenes Wissen in Endlos-Monologen vorzutragen.» Als er seine Veranstaltung im Vorlesungsverzeichnis ankündigte, wusste er: ein neuer Lehrtypus muss her, in dem man die Studierenden besser einbeziehen und an die eigenen wissenschaftlichen Interessensgebiete heranführen kann. Hausendorf forscht unter anderem zu Textualität im Alltag und Interaktion an öffentlichen Orten.

Mobile Lehre: Modell mit Zukunft

Heiko Hausendorfs Heimat als Linguist ist überall dort, wo Sprache ihr natürliches Zuhause hat, nämlich in hörbarer und lesbarer Gestalt allgegenwärtig ist. Etwa am Bahnhof, einem Kommunikationsraum par excellence, an dem sich der Zusammenhang zwischen Sprache und räumlicher Umgebung anschaulich beobachten lässt. Warum also die Studierenden nicht einfach mitnehmen? Für Hausendorf ist die «mobile Lehre» ein Modell mit Zukunft. Gerade hat die Stiftung für wissenschaftliche Forschung an der UZH seinen Antrag auf Finanzierung einer weiteren Funksprechanlage bewilligt. Nach seinem erfolgreichen Pilotprojekt können nun auch Kolleginnen und Kollegen am Deutschen Seminar und am UFSP «Sprache und Raum» ähnliche Veranstaltungen planen. «Ich habe in der Vorlesung gelernt, die Augen offen zu halten. Die Welt ist voller spannender wissenschaftlicher Fragestellungen», so eine der Studierendenstimmen. Hausendorf nickt zufrieden, darum ging es ihm: «Aufzeigen, dass man nicht Jahrzehnte an sprachwissenschaftlicher Forschung durchgeackert haben muss, bevor man sich äussern darf. Auch eine kleine Beobachtungsstudie kann neue Erkenntnisse bringen.»

Wie weit man mit solchen studentischen Versuchen kommt, hat er während seiner Bahnhofsvorlesung mehrmals erlebt: Manche Diskussionen zwischen den Teilnehmenden und ihrem Dozenten kamen Fachgesprächen unter Forschungskollegen «erstaunlich nahe».