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Jay Siegel: Ich arbeite zwar jetzt in China, aber mein Familienleben findet immer noch in Zürich statt und meine Professur an der UZH besteht weiterhin. Mit der UZH fühle ich mich sehr verbunden, da ich seit 1983 hier arbeite.
Mein Projekt in China beansprucht jetzt sehr viel Zeit, ermöglicht mir aber einen anderen Blick auf die Schweiz. Ich erlebe die UZH als weitaus internationaler als im Jahr 2003, als ich meine Tätigkeit als Professor aufnahm. Diese Entwicklung ist meiner Wahrnehmung nach den Vorstössen des neuen Rektors Michael Hengartner und des Dekans der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät Bernhard Schmid zu verdanken.
Was die Schweiz betrifft: Die Schweiz ist wohlhabend und verfügt über gut ausgebildete Menschen. Manchmal beschleicht mich jedoch ein Gefühl, dass das Land sich mehr Sorgen um den Verlust von Schätzen, Reichtum und Privilegien macht, als neue Ideen wagemutig umzusetzen.
China dagegen ist ein Land, das zwar auf viele tausend Jahre Hochkultur zurückblicken kann, im letzten Jahrhundert aber viele kulturelle Umbrüche erlitten hat. Das Land muss sich mühevoll neu definieren und etablieren. Deshalb fällt der Blick bei einem neuen Projekt eher auf die damit verbundenen Chancen als auf die möglichen Verluste.
Die UZH und die Universität Tianjin haben Interesse bekundet, den Studierendenaustausch zu fördern. Was versprechen Sie sich davon?
Jay Siegel: Die Tianjin Universität gehört in China zu den Spitzenuniversitäten, und auch die Studierenden gehören zu den besten in China. Innerhalb der TJU ist die «School of Pharmaceutical Science and Technology» ein Vorzeigemodell für Reformen und Internationalisierung. Der Begriff «academic freezone» beschreibt diese Entwicklung besonders gut.
So gesehen besteht im Herzen des chinesischen Hochschulwesens ein wichtiger Berührungspunkt mit der Schweiz, in der ja auch kulturelle Werte verschmelzen, berufliche Ethik gefördert wird und die Kommunikation dank einer gemeinsamen internationalen Sprache möglich ist. Es wäre daher sehr einfach für Schweizer Forschende, sich in dieser Umgebung wohl zu fühlen und gleichzeitig viel über die Lebensweise, Philosophie und Kultur Chinas zu erfahren. Und umgekehrt denke ich, dass auch Forschende der Tianjin Universität sich bestens eigenen würden, ihr Wissen in der Schweiz einzubringen. Ein Austausch wäre also für beide Seiten vorteilhaft.
In welchen Studienbereichen ist ein Austausch besonders sinnvoll?
Jay Siegel: Die «School of Pharmaceutical Science and Technology» der Tianjin Universität deckt die meisten Bereiche der Molekularen Lifes Sciences sowie der so genannten Pharmaco-Economics ab. Ab September 2015 wird die Unterrichtssprache Englisch sein. Der Lehrkörper wir um 20 neue Mitglieder aus der ganzen Welt erweitert. Es entwickelt sich also ein internationals Umfeld mit neuen Laboratorien und Dozierenden, die mit grosser Leidenschaft für Forschung und Lehre arbeiten. In einer solchen Umgebung fühlen sich auch Studierende wohl.
Zusätzlich interessant für Studierende aus dem Westen sind die speziellen Fachgebiete, die an der Tianjin Universität gelehrt werden, wie zum Beispiel traditionelle chinesische Medizin, medizinische Chemie oder Pharmakoökonomie. Die traditionelle chinesische Medizin, die Pflanzenbiologie, die molekulare Genetik, synthetische Biologie und organische Chemie haben viele Berührungspunkte. Die medizinische Chemie überlappt sich in vielen Bereichen mit den Erkenntnissen der herkömmlichen Chemie und Pharmakologie. Das Fach der Pharmakoökonomie hat aber auch Bezüge zu Wirtschaft, Politik und Recht. Studierende aus all diesen Fachbereichen könnten von einem Austausch profitieren.
Worin besteht der Unterschied zwischen einem Studium der Naturwissenschaften in China und in der Schweiz?
Jay Siegel: In der Schweiz wird auf hohem Niveau geforscht. Auch China strebt das an. Die Privatwirtschaft prosperiert – ich denke da an die Mode- und Filmbranche, die Industrie und das Finanzwesen. Die Bildungsinstitutionen dagegen entwickeln sich viel langsamer. Sie sind in mancher Hinsicht noch gezeichnet durch die Atmosphäre früherer Jahrzehnte. Die neue Generation von Wissenschaftlern in China wird jedoch beeinflusst von Chinesen, die zuvor im Ausland studiert haben und die von wissenschaftlicher Neugier angetrieben sind.
Leider bekommen diese jungen Wissenschaftler oftmals keine Gelegenheit, ihre Leidenschaft voll auszuleben, unter anderem wegen der antiquierten und sehr hierarchischen Universitätsstrukturen.
In unserem Departement an der Tianjin Universität ist dies jedoch anders: Der Lehrkörper ist jung und dynamisch, die Hierachien sind relativ flach und es gibt wenig Reibungspunkte zwischen den Fachbereichen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die chinesischen Wissenschaftler im nächsten Jahrzehnt international werden mithalten können.
Jay Siegel, wie lebt es sich in China?
Jay Siegel: Ich lebe gerne in China und in der Schweiz. Ich bin überall gern, wo ich neue kreative Erfahrungen machen kann. Wo das der Fall ist, fühle ich mich so richtig lebendig. Im Moment treibt mich die Idee an, ein Vermittler zwischen China und der Schweiz zu werden. Ich will mehr über das chinesiche System lernen und die Verbindung zwischen China und der Schweiz stärken. Mein Ziel ist es, ein Brückenbauer zwischen der Schweiz und China zu sein.