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In der Steinzeit könnten Menschen im Vorteil gewesen sein, die sich leicht ablenken liessen, ständig in Bewegung waren und impulsiv reagierten. Möglicherweise war dieses Verhalten für Jäger in einer feindlichen Umgebung der entscheidende Vorteil, der das Überleben sicherte. Dies könnte erklären, warum die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) so häufig auftritt, wenn sie auch in unserer heutigen Gesellschaft mehr Schwierigkeiten als Vorteile mit sich bringt.
Dass ADHS eine Modediagnose sei, dem widersprach Susanne Walitza in ihrem Vortrag in der Veranstaltungsreihe «Wissen-schaf(f)t Wissen». Zudem dürfe die Krankheit nicht verharmlost werden. Aus neuropsychologischer Sicht sei sie vor allem ein Defizit. Walitza ist ärztliche Direktorin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Zürich und Vizepräsidentin der «World Federation of ADHD». Weltweit sind ungefähr fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen sind von ADHS betroffen. «Nach den neuesten Metaanalysen hat sich dieser Wert in den letzten 30 Jahren nicht verändert», berichtete Walitza. Damit ist ADHS jedoch nicht die häufigste psychische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Angsterkrankungen treten doppelt so häufig auf.
Doch nicht jeder, der manchmal Tagträume hat, sich unruhig und ziellos bewegt und öfters vorschnell handelt, hat gleich ADHS. Genaue Richtlinien für die Diagnose sind im «International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10)» der WHO und im «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5)» der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft festgelegt.
Demnach müssen mehrere Symptome eines breiten Katalogs erfüllt sein, die ausserdem über eine Dauer von mehr als sechs Monaten in verschiedenen Lebenssituationen auftreten und spätestens vor dem zwölften Lebensjahr einsetzen. Entscheidend ist immer die Beeinträchtigung, die durch die Symptome entsteht. «Eine Abklärung sollte aber nicht erst in Betracht gezogen werden, wenn ein Kind durch sein Verhalten zum Klassenkasper wird oder gar der Schulausschluss droht», erläuterte Walitza. Und es muss ausgeschlossen werden, dass nicht eine körperliche Ursache, eine Entwicklungsstörung oder eine andere psychische Erkrankung dafür verantwortlich ist.
Die Ursache für die Entstehung von ADHS ist grossteils in den Genen zu suchen, wenn auch andere Faktoren wie beispielsweise eine schwierige familiäre Situation für die Ausprägung mitverantwortlich sind. Die Erblichkeit der Krankheit beträgt fast 80 Prozent. Dieser für psychische Erkrankungen extrem hohe Wert konnte durch Zwillings- und Familienstudien belegt werden.
Bei einigen Genen wurden Veränderungen beobachtet, die für das Auftreten der Erkrankung verantwortlich sein könnten, unter anderem bei jenen, die für den Transport der Gehirnhormone Dopamin und Noradrenalin verantwortlich sind. Die Wirkung dieser Gene kann durch Umweltfaktoren verstärkt werden, so beispielsweise durch Rauchen und Alkohol in der Schwangerschaft. «Es sind aber so viele Gene beteiligt, und das klinische Bild ist so vielfältig, dass es in den nächsten Jahren sicher keinen Gentest für die Diagnose von ADHS geben wird», stellte Walitza klar.
Für die Behandlung gibt es ebenso wie für die klinische Diagnose genaue Vorgaben in international anerkannten Leitlinien. Meist erfolgt sie multimodal durch die Beratung und das Training der Eltern, durch kindbezogene Massnahmen und die Zusammenarbeit mit der Bildungsinstitution beziehungsweise den Lehrpersonen. Es kann einem Kind beispielsweise viel helfen, mit professioneller Unterstützung zu lernen, erst mal genau zuzuhören und hinzuschauen, das geplante Tun zu überprüfen, und erst dann zu handeln. Eine ruhige, reizarme Lernumgebung zu schaffen, ist wichtig. Neurofeedback-Training ist eine weitere Möglichkeit, die am Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst Zürich angewandt und weiterentwickelt wird.
Reichen verhaltenstherapeutische Massnahmen nicht aus, um die Beeinträchtigungen und den Leidensdruck zu mindern, werden sie mit Medikamenten kombiniert. «Dabei ist Ritalin mit dem Wirkstoff Methylphenidat das Mittel der Wahl, da die Wirkung auf die Symptome sehr effektiv ist und schnell einsetzt. Es kann Kindern wie auch Eltern zu oft unerwarteten Erfolgserlebnissen in einer langen Leidensgeschichte verhelfen», berichtete Walitza. Das Präparat Strattera mit dem Wirkstoff Atomoxetin sei die zweite Wahl. Es würde verschrieben, wenn Ritalin nicht ausreichend wirke, Nebenwirkungen aufträten oder wenn weitere psychische Erkrankungen vorlägen. Die ebenfalls sehr gute Wirkung tritt verzögert ein, hält dafür aber länger an.
Ob denn die Einhaltung einer bestimmten Diät für die Behandlung sinnvoll wäre, kam die Frage aus dem Publikum. «Bei keiner der propagierten Diäten hat sich die Wirksamkeit nachweisen lassen. Oft sind sie sogar schädlich, weil auf zu viel verzichtet werden muss», so Walitza. Gesichert sei einzig, dass der Zusatz von Omega-3-Fettsäuren zur Nahrung positiv wirke. Allerdings muss eine relativ grosse Menge der sogenannten Eicosapentaensäure aufgenommen werden, die zudem nur in Fischölen vorhanden ist.
Wird ADHS nicht erkannt und behandelt, können Folgeerkrankungen wie Depressionen oder Angsterkrankungen auftreten. Die betroffenen Kinder erleben sich als Schulversager, und ihre Motivation zum Lernen sinkt, obwohl sie intelligent sind. Es dürfe nicht passieren, dass ADHS-Kinder einen Bildungsweg unter ihren intellektuellen Möglichkeiten einschlagen, forderte Walitza in der intensiv geführten Diskussion.
Die früher vorherrschende Meinung, dass ADHS sich immer mit der Pubertät auswachsen würde, sei inzwischen überholt, berichtete Walitza. In der Hälfte der Fälle bleibt die Krankheit im Erwachsenenalter bestehen. Umso wichtiger ist es, sie rechtzeitig zu erkennen und ernst zu nehmen. Die Behandlung soll den Betroffenen vor allem ermöglichen, mit ADHS umzugehen – und sich die Stärken, die auch damit verbunden sein können, nutzbar zu machen. «ADHS-Betroffene können hartnäckig an einer Sache arbeiten, wenn sie sich für etwas wirklich interessieren. Sie sind begeisterungsfähig und oft besonders kreativ und fantasievoll. Risikobereitschaft muss auch nicht immer nur schädlich sein», betonte Walitza. In diesem Licht betrachtet erscheint es sinnvoll, dass diese Eigenschaften im Laufe der Evolution erhalten geblieben sind.