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Wenn im Bundestagswahlkampf 2013 etwas deutlich wurde, dann dies: Deutschland ist ins postideologische Zeitalter eingetreten. Parteiprogramme spielten eine marginale Rolle, alles drehte sich um Personen. Und die Personalisierung der Politik wird anhalten – darüber war sich die Expertenrunde einig, die am Dienstag die möglichen Auswirkungen des Regierungswechsels in Berlin auf die deutschen Beziehungen zu Europa und der Schweiz diskutierte.
Teinehmende des Podiumsgesprächs waren Kathy Riklin, Universitätsrätin, CVP-Nationalrätin und Präsidentin der Delegation für die Beziehungen zum Deutschen Bundestag, Eric Gujer, Chef der Auslandredaktion der NZZ, und Christian Blickenstorfer, ehemaliger Botschafter der Schweiz in Deutschland. Organisiert hatte die Diskussionsrunde das «foraus» – Forum für Aussenpolitik, ein unabhängiger Think-Tank, der sich mehrheitlich aus jungen Akademikern zusammensetzt.
Was Statur und Profil der Bundeskanzlerin anbelangt, deren pragmatischer Politikstil so gut zur ideologiefernen Stimmung in Deutschland passt, gingen die Meinungen auf dem Podium auseinander. Kathy Riklin fand, Merkel habe den Wahlkampf «genial gemanagt». Eric Gujer relativierte: Merkel habe zwar ihre eigene Position gestärkt – aber auf Kosten des Parteiprofils. Entschlüsse wie etwa die «Energiewende» stünden einer bürgerlichen Regierung nicht gut zu Gesicht.
Der glänzende Wahlsieg ist für Merkel seltsam zweischneidig: Ihre Partei ist zwar im Bundestag so dominant vertreten wie seit langem nicht mehr, sie wird aber hart um eine regierungsfähige Koalition ringen müssen. Die anderen Parteien wissen inzwischen, wie schwer es ist, sich als Juniorpartner neben der geschickt taktierenden Kanzlerin zu behaupten. SPD und Grüne gehen deshalb nur widerstrebend in die nun beginnenden Sondierungsgespräche. Sie werden sich bemühen, frühere Fehler zu vermeiden – und sich eine Mitwirkung in der Regierung möglichst teuer erkaufen lassen.
Nach einem matten Wahlkampf stehen also spannende Wochen der Regierungsbildung bevor. Am Ende, so tippten die Podiumsteilnehmer, werde es zu einer grossen Koalition kommen. Ein Mitwirken der SPD in der Regierung werde Auswirkungen auf Europa haben, war man sich einig. Die heutige Austeritätspolitik würde wohl aufgeweicht, da bei den Sozialdemokraten die Bereitschaft, auf Forderungen der Südländer einzugehen, grösser sei als vormals bei der FDP.
Auch unter einer grossen Koalition aber werde sich Deutschland mit der Erwartung anderer Länder schwertun, in Europa Führungsstärke zu zeigen, sagte Gujer. Das Land werde sich weiterhin kleiner stellen, als es sei. «Den beiden grossen Volksparteien fällt es schwer, zu akzeptieren, dass Deutschland heute eine Grossmacht ist», sagte er.
Was die helvetisch-deutschen Beziehungen anbelangt, so widersprach in der Runde niemand grundsätzlich Kathy Riklins Ansicht, dass eine rein bürgerliche deutsche Regierung für die Schweiz angenehmer sei, zumal in Steuerfragen. «Die CDU», so Ricklin, «denkt in diesem Punkt ähnlich wie wir in der Schweiz». So waren es SPD-regierte Bundesländer, welche die umstrittenen Daten-CDs einkauften, und es waren SPD und Grüne, welche das zuvor zwischen den Regierungen der Schweiz und Deutschland ausgehandelte bilaterale Steuerabkommen im vergangenen Jahr begruben.
Da sich nun die Verhandlungen um ein Steuerabkommen auf die europäischer Ebene verlagern, sei es für die Schweiz nicht mehr derart entscheidend, ob in Berlin die SPD mitregiere oder nicht, meinte Gujer. Ohnehin seien für die Qualität der zwischenstaatlichen Beziehungen Persönlichkeiten wichtiger als Parteien. Es mache viel aus, ob deutsche Spitzenpolitiker mit den besonderen politischen Verhältnissen der Schweiz vertraut seien oder nicht. So sei es kein Zufall, dass gerade der aus dem grenznahen Südbaden stammende Finanzminister Wolfgang Schäuble stets besondere Sensibilität für die schweizerische Sichtweise gezeigt habe, sagte Gujer.
Eine etwas andere Meinung vertrat in diesem Punkt der Ex-Diplomat Christian Blickenstorfer. «Zu keinem anderen Land hat die Schweiz engere und vielfältigere Beziehungen als zu Deutschland», sagte er, da komme es auf das persönliche Verhältnis einzelner Akteure zur Schweiz nicht an. So wäre es auch kein Unglück für das schweizerisch-deutsche Verhältnis gewesen, wenn Peer Steinbrück Kanzler geworden wäre. Steinbrück, so wusste Blickenstorfer zu berichten, hege im Übrigen persönlich viele Sympathien für die Schweiz – auch wenn sich das viele Schweizer angesichts seiner Polemiken nicht vorstellen könnten.
Gujer mahnte, angesichts von Einzelkonflikten wie Fluglärmstreit und Daten-CDs nicht zu vergessen, dass das nördliche Nachbarland international stark für die Interessen der Schweiz einstehe. «Deutschland», sagte er, «ist ein gewichtiger Fürsprecher der Schweiz in der EU.» Worauf Blickenstorfer zu bedenken gab, dass sich seit der EU-Osterweiterung Deutschlands Fokus verschoben habe. Die Schweiz, so der ehemalige Botschafter, müsse sich heute aktiver als früher um Kontakte mit Deutschland bemühen.