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Das Motto des diesjährigen Ehrengastes der Frankfurter Buchmesse lautet «Brasilien – ein Land voller Stimmen». Der Slogan klingt nach exotischem Potpourri und bunter Wundertüte, bleibt letztlich aber ziemlich nichtssagend. Hätte man die Literatur Brasiliens nicht unter einem charakteristischeren Slogan zusammenfassen können?
Jens Andermann: Ich glaube nicht. Die Vielstimmigkeit und Verschiedenartigkeit ist tatsächlich das zentrale Merkmal der zeitgenössischen brasilianischen Literatur. Es gibt keine grossen literarischen Strömungen oder dogmatischen Bewegungen, denen ganze Autorencliquen folgen. Würden Sie mich nach einem jungen Schriftsteller fragen, den man als Sprachrohr seiner Generation verstehen könnte, wüsste ich nicht, wen nennen. Die literarische Produktion ist mittlerweile so divers wie das Land selbst und lässt sich darum kaum auf einen Nenner bringen. Insofern ist das diesjährige Buchmessen-Motto schon ganz gut gewählt.
Und was ist mit dem vielbeschworenen magischen Realismus? Hat er als verbindendes Element innerhalb der brasilianischen Literatur mittlerweile ausgedient?
Jens Andermann: Das ist ein schlimmes Klischee und entspricht kaum der literarischen Praxis. Kein brasilianischer, und übrigens auch sonst kein lateinamerikanischer Autor, würde sich heute den magischen Realismus so deutlich auf die Fahne schreiben, wie das hier in Europa rezipiert wird. Das Konzept des magischen Realismus, die Grenzen zwischen Realität und Phantasie, Moderne und Tradition im Kunstwerk zu verschmelzen und auf diese Weise auch eine politische Utopie für die Gesellschaft als ganze zu formulieren, ist ästhetisch und historisch gescheitert und längst passé.
Man könnte auch sagen: Der magische Realismus wird nur mehr von Bestsellerautoren wie Paulo Coelho und Isabel Allende bedient, die für ein Massenpublikum schreiben. Oder allenfalls im Modus des ironischen Abgesangs, wie bei wie dem Chilenen Roberto Bolaño. Ansonsten ist der magische Realismus vor allem ein vielversprechendes Label, das der hiesige Buchmarkt lateinamerikanischer Literatur pauschal überstülpt. Eben weil kein anderes markantes Paradigma für diese Schriftsteller an seine Stelle getreten ist.
Brasilien ist flächenmässig in etwa so gross wie alle Länder Europas zusammen. Die knapp 200 Millionen Einwohner verschiedenster Herkunft leben in einer Gesellschaft mit immer noch sehr ungleicher Vermögensverteilung. Kann es in einem geografisch, ethnisch und ökonomisch so disparaten Land überhaupt so etwas wie eine Nationalliteratur geben?
Jens Andermann: Wenn Sie so fragen, muss ich natürlich nein sagen. Ausserdem würden wir ja auch nie von Europa erwarten, dass es unisono mit einer einzigen literarischen Stimme spricht. Abgesehen davon ist der Begriff der Nationalliteratur, zumindest für die zeitgenössische Autorengeneration, nicht mehr zutreffend. Man will nicht mehr nur innerhalb eines nationalen Kontextes schreiben.
Brasilien und damit auch die brasilianische Literatur ist längst in der globalen Welt angekommen. Die brasilianische Lyrik wird heute eher von oralen literarischen Formen wie dem amerikanischen Rap als vom Samba oder von Liedermachern wie Caetano Veloso oder Gilberto Gil beeinflusst. Die Grenzen der Nation werden in der literarischen Produktion heute bewusst überschritten. Um beim Beispiel Lyrik zu bleiben: Es gibt gegenwärtig eine starke, experimentelle Szene, deren Dichter auf Portunhol schreiben, einer Mischsprache aus Spanisch, Portugiesisch und Guaraní.
Mit der literarischen Entgrenzung geht eine Aufwertung regionaler Sprachkulturen einher?
Jens Andermann: Richtig, das ist neu. Denn traditionell hat sich die brasilianische von der übrigen lateinamerikanischen Literatur dadurch abgesetzt, dass man sich eher an der europäischen und nordamerikanischen Moderne als an hispano-amerikanischen Autoren orientierte. Das gewachsene Interesse brasilianischer Schriftsteller an Partikularidentitäten, auch an den indigenen Sprachen und der afrikanischen Kultur, kann durchaus als Ausdruck einer Lateinamerikanisierung der brasilianischen Literatur verstanden werden.
Die brasilianische Literatur ist 2013 also eine andere als 1994, als Brasilien schon einmal Gastland der Frankfurter Buchmesse war?
Jens Andermann: Ja, ganz klar. Es ist eine wirklich neue Generation herangewachsen. Die Schriftsteller, die vor zehn Jahren nach Frankfurt eingeladen waren, verstanden sich noch mehrheitlich als Intellektuelle – öffentliche Figuren, die vor allem die soziale Realität und gesellschaftliche Umwälzungsprozesse beleuchten wollten.
Diesen Willen zur Autoethnografie, die Forderung an sich selbst, Brasilien als umfassende gesellschaftliche Allegorie zu erzählen, findet man unter den Jungen kaum mehr. Dafür rückt die lokale Welt in den Fokus: die alltäglichen Erlebnisse eines Individuums im urbanen Kontext einer Megacity. Dabei werden gesellschaftliche Probleme wie Städtewachstum oder das Verhältnis von Stadt und Favela aus einer sehr individuellen, fast biografischen Perspektive beschrieben. Mit diesen Grossstadtromanen ist in der brasilianischen Literatur eine neue Form des Neorealismus entstanden.
Die Frankfurter Buchmesse ist eine Chance, brasilianische Autoren aus der Ecke mit Liebhaberliteratur ins Rampenlicht und damit auch in die internationale Buchszene zu rücken. Was unternimmt das Romanische Seminar, um die Literatur Brasiliens in der Schweiz bekannter zu machen?
Jens Andermann: Die diesjährige Messe ist für uns natürlich besonders wichtig, sie bringt die brasilianische Literatur ins Gespräch. Auf diesen Zug springen wir mit einem vielfältigen Angebot an Lesungen am Romanischen Seminar auf. Ausserdem beteiligen wir uns an den Literaturtagen Zofingen, ein Festival, das immer Ende Oktober anlässlich der Frankfurter Buchmesse stattfindet.
Im Übrigen ist die brasilianische Literatur fester Bestandteil des Lehrplans im Studiengang portugiesische Literatur- und Sprachwissenschaft, der in der Schweiz ja nur an der Universität Zürich angeboten wird. Dieses Alleinstellungsmerkmal wollen wir in Zukunft stärken und einen eigenen, interdisziplinären Studiengang Brasilianistik aufbauen. Denn über die Literaturwissenschaft hinaus ist das universitäre Interesse an Brasilien gross. Wir stehen daher bereits in Kontakt mit den anderen Fakultäten der UZH, aber auch mit der brasilianischen Botschaft. Im Unterschied zu fast allen anderen europäischen Ländern ist die Schweiz noch nicht offizieller Kooperationspartner der brasilianischen staatlichen Stiftungen, die etwa Studienaufenthalte und Auslandslektorate finanzieren. Das wollen wir ändern.
Können Sie uns zum Abschluss noch einen Buchtipp geben?
Jens Andermann: Ich würde Ihnen gern drei brasilianische Autoren ans Herz legen. Zunächst Bernardo Carvalho und ganz besonders seinen ersten in deutscher Sprache veröffentlichten Roman «Neun Nächte». In dieser Dokufiktion spürt der Ich-Erzähler dem mysteriösen Selbstmord eines jungen amerikanischen Ethnologen nach, den seine Feldforschung in den 1920er Jahren zu den Indianern ins Amazonasgebiet trieb. Eine wunderbare junge Erzählerin ist auch Adriana Lisboa, deren Initiationsroman «Der Sommer der Schmetterlinge» die Geschichte der Militärdiktatur aus kindlicher Sicht erzählt. Der für mich wichtigste Erzähler der letzten dreissig Jahre ist João Gilberto Noll – von ihm sind wirklich alle Romane toll. Leider sind seine Werke noch nicht ins Deutsche übersetzt, dafür aber ins Französische, Italienische und Englische.