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Es ist paradox: Die Lebenserwartung des Menschen ist so hoch wie nie. Dennoch fühlen wir uns unsicherer als früher, stellte Philip F. Stahel als Podiumsteilnehmer verwundert fest: «Wenn das Leben heute gefährlicher wäre, würden wir nicht älter werden als vor hundert Jahren.» Stahel ist Unfallchirurg am Denver Health Medical Center (USA) und war einer von drei Gästen des Podiums.
Wie bereits im letzten Jahr organisierte Alumni UZH, die Dachorganisation der Alumni-Vereinigungen der Universität Zürich, zum Auftakt der Scientifica (Bildergalerie) einen Empfang. Rund 240 Alumni folgten der Einladung.
Im Zentrum der Reunion stand ein von Tagesschau-Moderator Florian Inhauser humorvoll und temporeich moderiertes Podium mit drei UZH-Alumni: Philip F. Stahel, Bernhard Schmid, UZH-Professor für Ökologie und SRF-Wirtschaftsredaktorin Marianne Fassbind.
Für Philip F. Stahel ist klar, dass die enorme Verfügbarkeit an Information uns ängstlicher macht. Der seltene Fall beispielsweise, dass ein Tourist von einem Hai angegriffen wird, führt zu umfangreichen Medienberichten. Das Resultat: «Wir überschätzen spektakuläre Gefahren», so Stahel.
Nicht Haie und Meteoriten seien unsere grössten Bedrohungen, vielmehr lauerten diese im Alltag: Ein Sturz vom Stuhl beim Staubwischen passiere uns eher als eine Hai-Attacke, und einen Autounfall zu erleben sei 2000 Mal wahrscheinlicher als einen Flugzeugabsturz.
Geschichten über seltene, aber spektakuläre Risiken schauen wir uns gerne in Actionfilmen vom Sofa aus an. Für unser eigenes Leben aber wünschen wir uns «Null Prozent Risiko», stellt Mediziner Stahel fest.
Dabei dürfe nicht vergessen werden, dass der Mensch sich selbst und der Welt das grösste Risiko sei, so Ökologieprofessor Bernhard Schmid mit Blick etwa auf den Klimawandel. Er stellt ein Umdenken in der Gesellschaft fest: Den Klimawandel zu verhindern, hat man aufgegeben, die Erderwärmung wird inzwischen als Realität akzeptiert. Jetzt sei die Gesellschaft mit der Frage beschäftigt, wie sich die negativen Auswirkungen davon minimieren lassen.
Für Schmid ist die Erhaltung einer möglichst grossen Biodiversität dabei sehr wichtig: Je grösser die Zahl der Pflanzenarten auf der Welt, desto eher habe es Arten dabei, die auch unter höheren Temperaturen leben können.
Dass sich der Mensch risikoreiche Systeme geschaffen hat, zeigte sich auch in der jüngsten Finanzkrise, deren Auswirkungen noch immer spürbar sind. Ökologe Bernhard Schmid beklagte, dass die Ökonomie im Gegensatz etwa zu technischen Systemen über keine Sicherheitssysteme verfüge. Stahel hingegen verteidigte die Wirtschaft: Es sei immer einfach, im Nachhinein Schuldige zu finden. Ungleich schwieriger sei es, Risiken im voraus zu kalkulieren.
Gemäss Ökonomin Marianne Fassbind gehen Wirtschaftsakteure bewusst mehr Risiken ein, weil Renditen locken. Es sei gefährlich, dabei zu sehr auf die Erfahrungen der Vergangenheit zu setzen. «Wir können uns in der Ökonomie nicht auf Wahrscheinlichkeiten verlassen, psychologische Aspekte wie etwa der Herdentrieb an der Börse spielen ebenfalls mit», so Fassbind. Sie warnte vor Dominoeffekten, bei denen wie in der Finanzkrise kleine Ursachen zu grossen Auswirkungen führen.
Während Wirtschaftsakteure bisweilen zu grosse und fahrlässige Risiken eingehen, herrsche im heutigen Wissenschaftsbetrieb eine mangelnde Risikofreude, beklagten Bernhard Schmid wie Philip F. Stahel. Ein Forschungsprojekt erhalte heute kaum noch Geld, wenn es ergebnisoffen sei und nicht schon von vornherein grosse Gewinne verspreche, so Schmid.
«Einstein könnte seine Relativitätstheorie heute nicht mehr publizieren», vermutete Schmid mit Blick auf die Peer-Review-Verfahren, mit denen Artikel in Wissenschaftsjournals heute abgesichert werden.
Stahel beklagte auch für die medizinische Forschung eine Überregulierung, die Leidenschaft ersticke und Innovation verhindere, indem sie es kaum mehr erlaube, Risiken einzugehen. «Wenn wir keine Risiken eingehen, ist aber auch keine Innovation möglich», so Stahel. «Ohne Risiken keine Evolution», doppelte Schmid nach.
Das Podium schloss mit dem Plädoyer, wieder vermehrt «vertretbare Risiken» einzugehen und diese als Chance zu sehen. «Nichts zu tun ist oft schlimmer als zu handeln», so Stahel. Er kläre jeweils mit folgenden Fragen, ob ein Risiko sich einzugehen lohne: Was ist das Beste und das Schlimmste, das passieren kann, wenn ich das Risiko eingehe? Und umgekehrt: Was ist das Beste und das Schlimmste, das passieren kann, wenn ich das Risiko nicht eingehe?