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Liebe Leserinnen und Leser
Des Rätsels Lösung ist:
Roussea simplex
Wir haben zahlreiche Zusendungen erhalten. Herzlichen Dank dafür.
Gewonnen hat:
Patrick Sticher
Der Gewinner erhält das Buch von Ruth Schneebeli-Graf und Richard Keller, «Botanisieren mit Jean-Jacques Rousseau. Die Lehrbriefe für Madeleine / Das Herbar für Julie», in den nächsten Tagen per Post zugestellt.
Während Jean-Jacques Rousseaus Werke «Julie» oder «Die neue Heloise» sofort nach ihrem Erscheinen Anfang 1761 ein grosser Erfolg werden und eine Welle von Briefromanen in ganz Europa auslösen – darunter Goethes Werther – , wird der «Contrat social» nach seinem Erscheinen im April 1762 verboten, ebenso das Erziehungsbuch «Émile». Die Sorbonne verurteilt das Buch Anfang Juni, das Parlament von Paris verbietet es wenige Tage danach und erlässt einen Haftbefehl gegen den Autor.
Rousseau flieht und findet im Kanton Neuenburg - damals eine preussische Exklave - Asyl. Er lässt sich im Städtchen Môtiers nieder, wo ihm die Lyoner Bankerin Julie Boy de la Tour-Roguin ein in ihrem Besitz stehendes Haus zur Verfügung stellt. Spaziergänge zum nahen Wasserfall tun ihm gut. Er geniesst die Natur und beginnt sich mehr und mehr für Pflanzen zu interessieren. Und es kommt zu einer wichtigen Begegnung: Rousseau trifft den Arzt und Naturforscher Jean-Antoine d‘Ivernois, der ihm rät: «Befassen Sie sich mit der Pflanzenwelt!»
Das sei der beste Ratschlag gewesen, der ihm je gegeben worden sei, sagt Rousseau später. 1764 beginnt er mit seinen botanischen Studien und geht mit d’Ivernois und dessen Freund Abraham Gagnebin (1707 – 1800), ebenfalls Arzt und Naturforscher, auf botanische Exkursionen.
Für Aussenstehende muss es eine seltsame Gesellschaft gewesen sein, die sich da auf den Weg in die Natur macht. Rousseau, der sich seit kurzem als Armenier kleidet, schreitet im langen Kaftan durch die Landschaft. Mit von der Partie: d’Ivernois, Gagnebin, Abraham de Pury, ein ehemaliger Oberst, Pierre-Alexandre Du Peyrou, ein sehr reicher Neuenburger Gönner Rousseaus und Graf François Louis Escherny. Alle haben verschiedene Rollen: Einer muss die Pflanzen tragen, die für das Herbar vorgesehen sind, einer den Kompass, der nächste kümmert sich um Feuerholz und Kaffee. Auf den mehrtägigen Exkursionen streift die Männergesellschaft durch die wilde Landschaft, dabei wird auch heftig diskutiert.
So wird Rousseau seinen Begleitern so einiges von seiner Philosophie vermittelt haben. Der Aufklärer war Sensualist, mass also den Sinnen einen ebenso hohen Wert wie der Ratio bei, und predigte – völlig konträr zum geometrischen Geist seiner Zeit – eine Art Naturreligiosität. Wer die Natur nicht spürt, wer das Natürliche nicht fühlt, wer sich rein auf die Vernunft und Sitte verlässt, der macht das Geschäft der Erkenntnis nur zur Hälfte, so war Rousseau überzeugt. Dass einer seiner Begleiter und Gönner, Pierre-Alexandre Du Peyrou, sein Vermögen durch den Sklavenhandel in Surinam gemacht hatte, schien damals kein Thema gewesen zu sein. Sklaven wurden nicht als Menschen betrachtet.
Auf Anraten Gagnebins wurden die gesammelten Pflanzen nach dem System von Carl von Linné (1707 – 1778) bestimmt. Linné war ein schwedischer Naturforscher, der mit der binominalen Nomenklatur die Grundlagen der modernen botanischen Taxonomie schuf. Rousseau und seine Freunde gehörten somit zu den fortschrittlichen Botanikern.
Zu jener Zeit waren in Europa viele verschiedene Systeme in Gebrauch, weshalb die gleiche Pflanze unter verschiedenen lateinischen Namen zu finden war. Der Rotklee hiess zum Beispiel beim bekannten Berner Botaniker Albrecht von Haller (1708 – 1777): Trifolium caule obliquo, foliis ovatis hirsutis, supremis conjugatis, vaginis aristatis; beim Schweden Linné kurz und bündig: Trifolium pratense. Linnés Nomenklatur hat sich durchgesetzt und gilt heute noch. Rousseau studiert sehr intensiv das Linné’sche System und dessen Grundlagen. Er wird zu einem kenntnisreichen Botaniker.
Mit seiner Hauswirtin Julie Boy de la Tour-Roguin und ihren beiden Töchtern, Madeleine und Julie, blieb Rousseau zeitlebens freundschaftlich verbunden. Jede der beiden Töchter wurde von Rousseau mit einem schönen Herbar beschenkt; jenes für Madeleine befindet sich heute im Musée Rousseau in Montmorency, jenes für Julie seit 1833 in der Zentralbibliothek Zürich.
Nach ihrer Heirat bat Madeleine Delessert-Boy de la Tour Rousseau brieflich um Angaben, wie sie ihre kleine Tochter am besten an die Pflanzenwelt heranführen könnte. Deshalb verfasste Rousseau ab 1871 für sie die «Lettres élémentaires sur la botanique», in denen er auf sehr anschauliche und für Laien leicht verständliche Weise die Grundzüge der Pflanzensystematik beschreibt. Damit konnte sich die junge Mutter im Selbststudium ein solides Fundament in Botanik erarbeiten.
Diese Lehrbriefe wurden erst nach Rousseaus Tod publiziert. Goethe fand sie entzückend. 1805 erschien eine Luxusausgabe mit Abbildungen des berühmten Pflanzen-Illustrators Pierre-Joseph Redouté.
Rousseau selbst blieb bis zu seinem Tod der Pflanzenwelt eng verbunden. Noch kurz vor seinem Tod ging er jeden Tag um fünf Uhr morgens durch den Park von Ermenonville nordöstlich von Paris spazieren, der – ganz im Gegensatz zum Geschmack jener Zeit – wild und natürlich ist. Hier, auf einer von Pappeln gesäumten Insel, wurde Rousseau beigesetzt; sechzehn Jahre später wurden seine sterblichen Überreste ins Panthéon in Paris überführt.