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Wer die gegenwärtigen Geschehnisse in den arabischen Staaten verstehen will, muss einen Blick auf die Hintergründe und die Geschichte dieser Länder werfen. Dies zu leisten war das Ziel der 4. Aarauer Demokratietage von vergangener Woche.
Nach der Begrüssung durch Daniel Kübler, Professor für Demokratieforschung und Public Governance an der UZH und Leiter der Abteilung für Allgemeine Demokratieforschung am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), machte Arnold Hottinger den Auftakt. Hottinger ist Arabist und war langjähriger NZZ-Korrespondent für den Nahen Osten.
Er zeigte in seinem Referat die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der arabischen Länder auf. Zu den Gemeinsamkeiten gehöre, dass in den letzten 30 Jahren in fast allen arabischen Ländern Machthaber herrschten, die primär an der Erhaltung ihrer Macht interessiert waren. Sie schufen einen Kreis privilegierter, ergebener Schichten und unterdrückten den Rest der Bevölkerung immer brutaler. «Dieses System musste zwangsläufig irgendwann zusammenbrechen», so Hottinger.
Warum aber gelangen in Tunesien und Ägypten die Umstürze, während sie in Bahrain und Saudi Arabien niedergeschlagen wurden und etwa in Syrien die Gewalt so lange andauert? Für Hottinger ist klar, dass sich der unterschiedliche Verlauf der Proteste durch die jeweilige Rolle der Armee erklären lässt. In Tunesien war die Armee klein und schwach, ein «Stiefkind der Regierung». Kein Wunder, verweigerte sie Präsident Ben Ali die Gefolgschaft, als es darum ging, das Volk niederzuknüppeln.
In Syrien, so Hottinger, bestimmen unterdessen Armee und Sondereinheiten die Geschehnisse: «Asad hat nichts mehr zu sagen.» Die Vorstellung, auf die eigenen Brüder zu schiessen, habe in der mehrheitlich aus Sunniten bestehenden Armee allerdings viele Soldaten desertieren lassen. Wie stark dies auch in den kommenden Monaten geschehe, wird gemäss Hottinger darüber entscheiden, wie sich die Lage in Syrien weiterentwickelt.
Aber auch in Libyen, Tunesien und Ägypten ist die Demokratisierung gemäss Hottinger noch keineswegs abgeschlossen. «In Ägypten ist noch kein einziger Polizist verurteilt worden, der auf Demonstranten geschossen hat», so Hottinger mit Blick auf das Gerichtssystem, das noch auf den alten Machthaber zugeschnitten ist. Zwar sei inzwischen ein Parlament, aber noch keine Regierung eingesetzt, weshalb die Macht noch immer bei der Armee liege.
Zu den Anlaufschwierigkeiten der jungen Demokratien gehören auch die Grabenkämpfe zwischen muslimischen und säkularen Demokraten. Deren ideologische Debatten lenken gemäss Hottinger von den wichtigeren Aufgaben ab: «Der Wirtschaft geht es schlechter als zur Zeit der Einmann-Herrscher.» Wenn es jetzt nicht gelinge, Arbeitsplätze für die Jungen zu schaffen und die Wirtschaft anzukurbeln, drohe die Gefahr, dass wieder ein starker Führer die Macht an sich reisse.
Hottinger ist jedoch optimistisch. Auch falls es solche Rückfälle geben sollte, der Keim für eine bessere Zukunft sei vorhanden: Eine neue, revolutionäre Jugend, die nicht mehr den alten, nationalistischen oder islamistischen Kräften glaubt, sondern selbstbewusst einen neuen Weg in die Zukunft einfordert, ist auf den Plan getreten.
Wie wichtig es ist, die desolate Wirtschaftslage zu verbessern, wurde auch beim anschliessenden Podiumsgespräch mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft betont.
Elham Manea, Privatdozentin für Politikwissenschaft an der Universität Zürich, hat Ägypten kürzlich besucht und dortige Aktivisten nach deren Erwartungen an die Schweiz gefragt. Die wichtigste Antwort, die sie erhalten habe: Die katastrophale Wirtschaftslage könnte zu einer Hungerrevolte führen. Dies gelte es zu verhindern, indem etwa Schweizerische Hilfsorganisationen lokale Organisationen unterstützen.
Markus Leitner, Chef der Sektion Friedenspolitik im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), erhält ähnliche Antworten. Das blockierte Geld der früheren Machthaber zurückgeben und mithelfen, Arbeitsplätze zu schaffen, seien wichtige Anliegen aus der Region an die Schweiz. Mit ihrer Nordafrika-Strategie sei die Schweiz in diesem Sinne tätig. Daneben engagiere sie sich aber auch im Bereich Demokratie und Menschenrechte – etwa, indem sie neue Verfassungen formulieren helfe und Wahlbeobachter stelle.
Für Andreas Auer, Professor für Öffentliches Recht an der UZH und vorsitzender Direktor des Zentrums für Demokratie Aarau, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Schweiz und speziell auch die Universitäten ihr Wissen und ihre Erfahrung in Sachen Demokratie den arabischen Ländern zur Verfügung stellen. Das schon vor einem Jahr an die Adresse des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten formulierte Angebot des Zentrums für Demokratie, im arabischen Raum beratend tätig zu sein, gelte immer noch.
Er ist zuversichtlich: «Zu einem unerwarteten Zeitpunkt ist in den arabischen Staaten ein starker Ruf nach Demokratie erschallt. Darin steckt ein riesiges Potenzial.» Es sei kein Ding der Unmöglichkeit, eine Demokratie zu entwickeln. Die Schweiz habe es auch geschafft – und dabei ebenfalls auf ausländische Hilfe zählen dürfen. Der deutsche Schriftsteller und Pädagoge Heinrich Zschokke liess sich 1796 in der Schweiz nieder und war dem Aufbau der schweizerischen Demokratie von der Helvetik bis 1848 in vielfältiger Form politisch und beratend dienlich.
Es gelte allerdings, bescheiden zu sein: «Wir können unsere Erfahrung anbieten, aber nicht erwarten, dass unser Rat auch umgesetzt wird.» Zu beachten sei zudem, dass staatliche Institutionen und demokratische Gepflogenheiten wie etwa die Gewaltenteilung nur einen Aspekt von Demokratie darstellten. Komplexer sei das Zusammenspiel von Staat und Zivilgesellschaft, das es sorgfältig auszubalancieren gelte: «Es kann mehrere Generationen dauern, um die nötigen zivilgesellschaftlichen Strukturen zu entwickeln.»
«Die wohl beste Adresse» als Ansprechpartner für die Schweiz sieht Elham Manea in den bereits vorhandenen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sinnvoll sei dabei vor allem, mit postislamistischen Gruppierungen zu arbeiten – also solchen, die sich zum Islam, aber auch zur Demokratie bekennen.
Dass die Schweizer Diplomatie schon lange mit zivilgesellschafllichen Gruppierungen zusammenarbeite, erweise sich jetzt als grosser Vorteil für die Schweiz, sagte Geri Müller, Nationalrat der Grünen und Mitglied der Aussenpolitischen Kommission. Er stosse als Schweizer Politiker auf viel Wohlwollen in den arabischen Ländern. Insofern habe die Schweiz ein grosses Potenzial, in der arabischen Welt Unterstützung zu leisten.
Diese Chance auch im Bereich der Wissenschaft noch vermehrt zu nutzen, wünschte sich Anita Müller, Geschäftsleiterin von swisspeace, einem Forschungsinstitut im Bereich Friedensförderung. Müller könnte sich einen eigentlichen Forschungsschwerpunkt zu arabischen Ländern vorstellen – analog zum NCCR Nord-Süd.