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Arabische Revolutionen

«Die Islamisten werden gewinnen»

Gross war die Hoffnung, als sich vor zwei Jahren in Ägypten, in Tunesien und bald auch anderswo die Bevölkerung gegen die Autokraten zu erheben begann. Inzwischen hat sich das Bild verdüstert. Nahost-Kenner Erich Gysling wagte in einem Vortrag an der Universität Zürich eine Prognose für die weitere Entwicklung. 
David Werner

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«Revolutionen dauern zehn Jahre und mehr»: Erich Gysling, Nahost-Experte.

Noch vor einem Jahr konnte man als entfernter Beobachter den Eindruck gewinnen, die arabische Welt sei von einer Welle der Emanzipation und der Demokratisierung erfasst worden. Inzwischen ist angesichts des blutigen Bürgerkriegs in Syrien und der ungewissen Entwicklung in Ägypten Ernüchterung eingetreten.  

Man fragt sich, was mit den liberalen oppositionellen Kräften geschehen wird, die sich jetzt wieder auf dem Tahrir-Platz in Kairo formieren, um gegen die Vollmachten, die Mohammed Mursi sich angemasst hat, zu protestieren. Werden sie noch etwas ausrichten können? Oder werden sich am Ende die Islamisten als die grossen Profiteure der Aufstände in der arabischen Welt erweisen?

Um diese Frage kreiste ein Vortrag, den der Journalist und Nahost-Spezialist Erich Gysling diese Woche auf Einladung des Europa Instituts an der Universität Zürich vor einem grossen Publikum hielt.

Vorsicht vor westlichen Wunschprojektionen

Gysling warnte davor, sich bei der Interpretation der Vorgänge im Nahen Osten zu sehr von westlichen Wunschprojektionen leiten zu lassen. Die Öffentlichkeit in Europa und den USA sei angesichts der Umstürze in der arabischen Welt zu «news-gläubig» gewesen und habe in zu kurzen Zeiträumen gedacht. «Revolutionen, das hat die Geschichte gezeigt, dauern zehn Jahre und mehr», sagte Gysling.

Der Journalist zeigte sich überzeugt davon, dass es sich bei den Unruhen in den arabischen Ländern um veritable Revolutionen handle. In den Gesellschaften vieler arabischer Länder gäre es. «Das deutlichste Zeichen dafür ist das Bröckeln der Autoritäten», sagte er.

Noch vor wenigen Jahren sei es in arabischen Ländern undenkbar gewesen, dass ein langjähriger Diktator gestürzt und hinter Gitter gebracht werden könnte. Einmal etablierte Staatschefs hätten bis vor kurzem nichts zu befürchten gehabt. Mit dieser für arabische Länder typischen Langlebigkeit von autokratischen Regimes sei es nun zu Ende.

Allerdings, relativierte Gysling, seien die Umbrüche in der arabischen Welt nicht von einem Aufstand der Masse getragen, vielmehr handle es sich um die Bewegung einer revolutionären Minderheit. In Ägypten beispielsweise hätten nur rund 2,5 Prozent der Bevölkerung aktiv protestiert. Das entspreche etwa dem Anteil der wirklich liberalen, progressiven Kräfte im ägyptischen Parlament nach den letzten Wahlen.

Auch Jugendliche und Frauen wählen Islamisten

«Es ist nicht in erster Linie die Demokratie nach westlichem Vorbild, nach der sich die Mehrheit der Bevölkerung Nahen Osten in sehnt», stellte Gysling klar. Er zeigte sich überzeugt: Wenn man den Menschen in den arabischen Ländern die Wahl lasse, dann würden sie islamistische Parteien den Vorzug geben.

So hätten auch bei den letzten ägyptischen Parlamentswahlen die Muslimbrüderschaften und die Salafisten zusammen weit über zwei Drittel der Stimmen erhalten. «Die Präferenz für islamistische Parteien zeigt sich in allen Bevölkerungsgruppen» sagte Gysling. «Nicht nur ältere Männer, sondern auch Jugendliche und Frauen wählen mehrheitlich die Islamisten.»

Worin besteht die ungeheure Anziehungskraft des politischen Islams? «Die Hoffnung der Menschen in den Ländern der arabischen Welt und des Irans richtet sich weniger auf Demokratie, die viele als unordentlich und einige auch als moralisch zweifelhaft empfinden, sondern vor allem auf ein menschenwürdiges Leben in Sicherheit, auf verlässliche Werte, auf Eindämmung der Korruption und auf Gerechtigkeit», erklärte Gysling. «Für Sicherheit und eine verlässliche moralische Ordnung sind sie bereit, einen Teil ihrer Freiheit zu opfern». Und so beriefen sich denn auch die Iraner, die zwischen 2009 und 2011 auf die Strasse gingen, um gegen Präsident Mahmud Ahmedinedschad zu protestieren, nicht auf die Demokratie – sondern auf Allah.

Der Islam als Schutzschild

Der Islam, führte Gysin weiter aus, sei viel mehr als nur Religion: Er sei eine Weltordnung mit moralischen, kulturellen, juristischen, ja sogar wirtschaftlichen Bedeutungskomponenten. Weite Teile der Bevölkerung empfänden ihn als ein Schutzschild gegen die Unberechenbarkeit und das Chaos in der Welt. «Ein weises, gerechtes, in festen islamischen Werten verankertes Regime vermag in den Augen der Mehrheit mehr Sicherheit zu garantieren als eine Demokratie nach westlichem Muster», sagte Gysling.

Dies sei der Grund für den Vormarsch des politischen Islams. Das bedeute nicht, dass demnächst überall Gottesstaaten nach iranischem Vorbild entstünden. Wahrscheinlicher sei, dass sich ganz unterschiedliche islamistische Staatsmodelle entwickelten. Eines aber, so Gysling, zeichne sich deutlich ab: «Die Islamisten werden gewinnen.»