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Wo steht die Kirche heute – und wo will sie hin? Der Religionssoziologe Jörg Stolz hat vor kurzem die Zukunft der reformierten Kirche in der Schweiz folgendermassen prognostiziert: «Die Kirche wird kleiner, ärmer und älter.» Es ist in der Tat richtig, dass jedes Jahr bis zu ein Prozent aller getauften Christen aus den evangelischen Kirchen in Deutschland und der Schweiz austreten. Ein Grund dafür mag eine gewisse Milieuverengung sein: Bestimmte Gruppen der Gesellschaft werden von den Kirchenangeboten nicht mehr erreicht.
Die christlichen Kirchen sehen sich zudem einem vielfältigen Markt unterschiedlichster Religionsanbieter gegenüber: Esoterikläden etwa finden sich mittlerweile in jeder deutschen Einkaufsmeile. Festgehalten werden muss auch: Der Anteil der Konfessionslosen in Deutschland und der Schweiz hat sich in den vergangenen vierzig Jahren fast verzehnfacht, was sich unter anderem in kontinuierlich sinkenden Tauf- und Konfirmationszahlen widerspiegelt.
Offenkundig ist auch, dass die Kirche an öffentlicher Bedeutung verloren hat. Dies lässt sich zum Beispiel in der Schweiz sehr deutlich beobachten: Politische Debatten, sei es zur Sterbehilfe, zur Asylpolitik oder zur Frage der Kernkraft werden ohne ausdrücklichen Bezug zu christlich-ethischen Werthaltungen geführt. Verschwiegen werden darf letztlich auch nicht: Es gibt (immer noch) viel Langweiliges und manche Biederkeit in der Alltagspraxis der Kirchen.
Doch wer die kirchliche Praxis näher unter die Lupe nimmt, entdeckt auch viel Gelingendes. Zum Beispiel neue, innovative Kirchenprojekte einzelner Gemeinden in Deutschland als Folge des von der Evangelischen Kirche angestossenen Reformprozesses «Kirche der Freiheit». Dabei reicht das Engagement von neuen Gottesdienstformen und kulturellen Angeboten bis hin zu diakonischem Handeln.
Ein weiteres Hoffnungszeichen ist die evangelische Jugendarbeit in Deutschland: Diese Form informeller religiöser Bildung erreicht jedes Jahr zehntausende junger Menschen. Darüber hinaus ist festzustellen, dass in den vergangenen zehn Jahren allein im deutschsprachigen Raum fast 150 neue Kinderbibeln erschienen sind – auch dies ein Zeichen, dass Eltern verstärkt nach Orientierung für ihre Kinder suchen. Zu verzeichnen ist daneben noch ein ganz neuer Schwung kirchlicher Kommunikation: Auf Twitter und Facebook findet Lebensbedeutsames in Echtzeit statt. In diesen neuen Medien steckt sicherlich noch viel ungenutztes Potenzial für neue Formen christlicher Gemeinschaft.
Es stellt sich also die Frage, wie sich gelingende Reformprojekte auch in anderen Kirchengemeinden implementieren lassen. In unserer universitären Feldforschung und Beratungstätigkeit stellen wir immer wieder fest, dass die Beharrungskräfte vor Ort oft grösser sind als die Energien zu einem Aufbruch.
Daher ermuntere ich die Verantwortlichen in den Gemeinden zu einer gehörigen Portion Mut, die eigenen Hoffnungspotenziale noch besser als bisher zu nutzen, aus der Prognose «kleiner, ärmer, älter» ein «erkennbarer, mutiger, jugendlicher» zu machen. Angesichts der vorhandenen Probleme in der Welt und der konkreten Nöte der Menschen hat die Gesellschaft geradezu ein Recht auf eine mutige Kirche.