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Unser Erbgut besteht aus sechs Milliarden Buchstaben. Dieses zu entschlüsseln, also die Reihenfolge der vier Buchstaben A, C, G und T zu bestimmen, kostete noch vor zehn Jahren unglaubliche drei Milliarden Dollar. Heute wird das Erbgut für ganze 2'000 Dollar sequenziert. Noch billiger ist es, die circa eine Million zählenden Erbgut-Marker – die sogenannten SNPs, single nucleotid polymorphisms – zu bestimmen.
Für 200 Dollar untersucht die amerikanische Firma «23andMe» Ihre Erbgut-Marker. Sie benötigt hierfür lediglich eine Speichelprobe, die im Reagenzglas eingesandt wird. Einige Wochen später erhalten Sie über einen anonymisierten Internet-Zugang eine Aufstellung über Ihre Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten und darüber, wie Sie auf verschiedene Medikamente ansprechen. Sie wissen dann beispielsweise, dass Sie im Vergleich zur übrigen Bevölkerung eine dreimal höhere Wahrscheinlichkeit haben, an Dickdarmkrebs zu erkranken; dafür ist Ihre Wahrscheinlichkeit, an Altersdiabetes zu erkranken, eher gering.
Gleichzeitig steht es Ihnen frei, Angaben über Ihre Person (etwa zur Körpermasse und Gewohnheiten) sowie Krankheiten wie Asthma oder Depressionen anonym zu liefern. Anhand von computerunterstützten Analysen werden neue Korrelationen zwischen bestimmten Genen und auftretenden Krankheiten eruiert.
«Der Begriff der Krankheit muss bald neu definiert werden, denn diese grosse Datenmenge beinhaltet ein extrem hohes Potenzial an neuen medizinischen Informationen», meint Hafen. «Zudem kann jetzt jeder einzelne einen wissenschaftlichen Beitrag leisten, der in der Summe sehr wertvoll ist.» Und in der Tat, dank den über 100'000 Kunden von «23andMe» konnte die Firma bereits bis anhin unbekannte Zusammenhänge zwischen Genen und Krankheiten identifizieren und der medizinischen Forschung zur Verfügung stellen.
Es bleibt die Frage: Wollen Sie wirklich wissen, welche Krankheiten auf Sie zukommen werden? Würden Sie Ihren Lebensstil ändern, wenn Sie damit dem Ausbruch der Krankheit vorbeugen können? «Generell muss der Umgang mit negativen Nachrichten diskutiert werden», meint Hafen und zitiert den UZH-Ethiker Peter Schaber und das «Recht auf Nichtwissen».
Ist eine genetisch bedingte Krankheit einmal ausgebrochen, möchten viele Betroffene über die Krankheit reden und dabei gleichzeitig medizinische Informationen der Forschungsgemeinde zur Verfügung zu stellen. Das ermöglicht die amerikanische Firma «patientslikeme».
Auf einer Internetplattform tauschen betroffene Patienten ihre Krankengeschichten aus. Gleichzeitig tragen sie zum Aufbau einer riesigen Datenbank bei, in der die Dauer und der Verlauf von Krankheiten sowie Art und Dosierung von Medikamenten ausgewertet werden können. Daten, die ansonsten nur beim behandelnden Arzt gespeichert sind, gehen nicht mehr verloren. Für Hafen ist es «eine soziale Verpflichtung, solche Informationen an die Allgemeinheit weiterzugeben».
Wie aber steht es mit dem Datenschutz? Sowohl «23andMe» als auch «patientslikeme» sind private Unternehmen. Um die Gefahr des Datenmissbrauchs zu verhindern, schlägt Hafen vor, in der Schweiz eine gemeinnützige Organisation zu gründen, welche eine Art Fusion beider amerikanischen Firmenideen als Basis hätte. «Dies hätte für den Patienten wie auch für das Gesundheitswesen Vorteile, denn unser Ziel soll es sein, zu verhindern, dass Krankheiten überhaupt ausbrechen», erläutert Hafen.
Die Medizin des 21. Jahrhunderts wird sich germäss Hafen am 4P-Grundsatz orientieren: prädiktiv (voraussehend), personalisiert, präventiv und partizipatorisch. Gerade der letzte Aspekt des aktiven Mitwirkens von Patienten soll gefördert werden, meint Hafen. Da die Sequenzierung des Erbgutes immer schneller und kostengünstiger erfolgt, werden wir in den nächsten Jahren mit einer Flut an sensiblen Informationen konfrontiert werden. Wo die Privatsphäre aufhört und das öffentliche Interesse anfängt, soll jetzt diskutiert werden. Denn die medizinische Zukunft hat bereits begonnen.