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Religionskritik

Nichts Menschliches zum Gott machen

Der Kult um Gewalt und Krieg oder die Abwertung von Andersgläubigen gehören zum Islam genauso wie zum Christentum. Der deutsche Theologe Wolfgang Huber plädiert für den selbstkritischen Umgang mit religiösen Traditionen. UZH News dokumentiert seine Thesen aus dem Eröffnungsvortrag zum XIV. Europäischen Kongress für Theologie vom 11.–15. September 2011 an der Universität Zürich.
Wolfgang Huber

Am 11. September 2001 wurde für die Beschäftigung mit dem Thema der Religion ein neues Kapitel aufgeschlagen. Neu war nicht, dass Religion dazu missbraucht wurde, Gewalt zu rechtfertigen; neu war auch nicht, dass Gott für eigene Zwecke instrumentalisiert und damit zum Götzen gemacht wurde.

Für eine theologische Religionskritik von innen: «Der Menschensohn», Installation von Sigmar Polke, Grossmünster, Zürich 2009.

Neu war, dass dies in einer global gemeinten Inszenierung geschah. Ein Zerrbild von Religion, ja ein Zerrbild Gottes trat vor eine weltweite Öffentlichkeit. Die Aufgabe, zwischen wahrer und falscher Religion zu unterscheiden, wurde ebenso offenkundig wie die Notwendigkeit, Gott und Abgott nicht zu verwechseln. Dabei konnte und kann es nicht darum gehen, einer Religion allein die absolute Wahrheit zuzuerkennen und sie allen anderen abzusprechen. Das Geschehen des 11. September 2001 machte vielmehr bewusst, dass kritisches Unterscheiden nicht nur zwischen den Religionen, sondern auch innerhalb der einzelnen Religionen vonnöten ist.

Zum Martyrium verklärt

Die Zielsetzung von 9/11 war klar: Vor den Augen der Weltöffentlichkeit sollten die vermeintlichen wirtschaftlichen und militärischen Machtzentren der sündhaft-heidnischen westlichen Welt attackiert werden.

Eine bestimmte Deutung des Islam beanspruchte dafür die denkbar prominenteste Bühne, nämlich die globale Medienöffentlichkeit. Für den mörderischen Angriff auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington wurde den Tätern eine «geistliche Anleitung» mit auf den Weg gegeben. Die Verpflichtung zum gewaltsamen Kampf gegen die Ungläubigen wurde zum beherrschenden Motiv einer terroristischen Handlung, die religiös als Martyrium verklärt wurde.

Auch zehn Jahre später zieht das Datum des 11. September 2001 die Interpretation auf sich, dass religiöse Gewaltbereitschaft ein bestimmendes Merkmal von Religion überhaupt sei. Zu der seitdem verstärkten Aufmerksamkeit für Religion gehört deshalb auch eine neue Massivität von Religionskritik.

Diese Religionskritik von aussen ist aber nicht nur als Bedrohung abzutun, sondern ist für die Theologie Anlass, eine eigene, theologische Religionskritik von innen unter den Bedingungen der Pluralität zu entwickeln, die über die Indifferenz einer inklusiven Hermeneutik anderer Religionen hinausführt. Hierbei bildet die Achtung des Fremden und der Respekt vor der Würde der Verschiedenen einen entscheidenden Massstab.

Eine Religionskritik von innen schliesst den selbstkritischen Umgang mit religiösen Traditionen ein, die auf den Ausschluss des Fremden, die Abwertung des Andersgläubigen, die Geringschätzung anderer aus Gründen der Religion, der Rasse oder des Geschlechts sowie die Rechtfertigung von Gewalt gegenüber dem Feind gerichtet waren oder sind. Schon an dieser Stelle ist deutlich, dass Religionskritik sich niemals in der Kritik fremder Religionen erschöpfen kann, sondern sich immer auch auf die eigene religiöse Tradition richtet.

Religion als Beschwörung

Besonders deutlich zeigt sich am religiösen Kult der Gewalt und des Krieges, wie er die Gestalt einer förmlichen religiösen Unterwanderung anzunehmen vermag. In der Geschichte des Christentums hat sich die Kriegsverherrlichung immer wieder einen eigenständigen religiösen Ausdruck verschafft.

Bis in die Neuzeit hinein haben bildliche Darstellungen antiker Kriegsgötter Eingang in christliche Kirchen gefunden. Dass darin nicht nur eine ästhetische Reminiszenz ohne religiösen Gehalt lag, kann man an der intensiven Inanspruchnahme Gottes für die jeweils eigene Kriegspartei bis in die Gegenwart hinein erkennen. Im Krieg droht die Religion zur Beschwörung des «Gott mit uns» zu verkommen.

Das Beispiel zeigt: Theologische Religionskritik kann sich nicht auf die anthropologischen Aspekte der Anerkennung des Anderen beschränken; sie muss sich mit der Inanspruchnahme des Göttlichen für die eigene Sache und für den Ausschluss des Fremden auseinandersetzen. Denn theologische Religionskritik muss sich ausdrücklich der Frage widmen, ob die religiöse Gestaltung des Transzendenzbezugs den Umgang des Menschen mit seiner endlichen Freiheit fördert oder verhindert.

Verhindert wird die Anerkennung der endlichen Freiheit überall dort, wo der Mensch und seine Hervorbringungen selbst mit dem Anschein des Göttlichen umgeben und seine endliche Freiheit so zu einer unendlichen Freiheit gesteigert wird. Dies mag im Kult der Nation, der Vernunft oder der Kunst geschehen, es kann auch die vergleichsweise banale Form der Rede vom «Fussballgott» annehmen. In all solchen Fällen wird das Irdische vergötzt, das Menschenwerk idolisiert, die endliche Freiheit zu einer vermeintlich unbegrenzten Freiheit gesteigert.

Der sakrale Pomp des Kapitalismus 

Immer wieder ist die Versuchung dazu, die Grenzen der endlichen Freiheit zu überspringen, am Beispiel des Geldes verdeutlicht worden – jenem Beispiel, an dem auch Martin Luther die Nähe von Gott und Abgott verdeutlicht hat; denn sie beide werden allein durch «Trauen und Glaube» gemacht. Kaum eine Äusserung Luthers hat ein intensiveres Echo gefunden als seine Betrachtung des Mammon als des «allergemeinsten», also allergewöhnlichsten Abgotts auf Erden.

Besonders markant begegnet dieses Echo bei Walter Benjamin. Sein postum veröffentlichter Text über Kapitalismus als Religion blieb unvollendet, vielleicht gerade weil er der Behauptung von der Auflösung der Religion in den Kapitalismus den Anschein einer geschichtsphilosophischen Eindeutigkeit gab, an welcher der Autor selbst Zweifel haben mochte. Doch die drei Kennzeichen, deretwegen Benjamin den Kapitalismus als Kultus bezeichnet, bleiben unabhängig vom geschichtsphilosophischen Rahmen des Nachdenkens wert.

Benjamin sieht im Kapitalismus zuallererst eine «reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat», eine Kultreligion nämlich, die auf alle Dogmatik und Theologie verzichten kann. Sein Kultus ist sodann von permanenter Dauer; erkennt keinen Tag, an dem sich der sakrale Pomp dieser Religion nicht entfalten würde. Und schliesslich ist dieser Kultus nicht wie andere entsühnend, sondern verschuldend.

Freilich sind Verschuldung und Gewinn im modernen Finanzkapitalismus weit dichter und zugleich undurchschaubarer miteinander verzahnt, als Benjamin im Jahr 1921 beim Abfassens eines Fragments ahnen konnte. Der Wandel verdankt sich entscheidend der digitalen Revolution; mit ihr beschleunigt sich der Finanzkreislauf derart, dass inzwischen nicht mehr menschliche Gehirne, sondern Computerprogramme über den Einsatz von Milliarden entscheiden. Die Möglichkeiten, durch hohe Risiken hohe Gewinne zu machen, haben sich vervielfacht. In der Zukunft erwartete Preisveränderungen von Rohstoffen oder Devisen werden in Gewinnmargen umgesetzt, Schulden werden ebenso wie die Spekulation auf Kursverluste von Aktien in Wertpapiere verwandelt.

Der Finanzmarkt hat sich vollständig von der sogenannten «Realwirtschaft» gelöst und übersteigt deren Umfang um ein Mehrfaches. Das ist nur möglich, weil Preise sich nicht mehr auf Waren und Dienstleistungen, sondern wieder auf Preise beziehen. Aus diesem selbstbezüglichen Geschehen wird auch ein umfassendes Zukunftsbild abgeleitet – die Verwirklichung eines «Reiches Gottes» mit den Mitteln der Finanzmärkte.

Geld macht nicht glücklich

Auch in finanzieller Hinsicht wurde schon in den neunziger Jahren das «Ende der Geschichte» angesagt. Das Drama der Wirtschaftszyklen, so meinte man, werde aufhören und durch eine unabsehbar lange Epoche stetig steigender Erträge abgelöst. Aus der vermeintlichen Eigendynamik globaler Finanzströme wurde eine Reich-Gottes-Botschaft abgeleitet, das Evangelium der Finanzmärkte.

Freilich ist die Erwartung, dass dieses Gottesreich nahe herbeigekommen sei, in den sich beschleunigenden Finanzmarktkrisen der letzten Jahre durchaus enttäuscht worden. Doch die Priester dieses Kultes halten dagegen: Krisen, so sagen sie, ändern nichts an den Verheissungen dieses Systems. Doch wenn schon nicht die Krisenanfälligkeit des Finanzialismus, so spricht die bittere Realität von Armut, Hunger und wachsenden sozialen Spannungen dagegen, von einem Ende der Geschichte zu träumen. Dass der Eigendynamik der Finanzmärkte zugetraut wird, dieses Ende zu bewirken, zeigt einmal mehr die Gefahr, die mit einem selbstreferentiellen Kult des Gelds verbunden ist.

Näher liegt eine Entmythologisierung des Gelds. Es ist kein Weg zum Heil. Es macht auch nicht glücklich – erst recht dann nicht, wenn man es zum Gott macht. Dafür ist es nötig, die Vergötzung des Geldes zu unterbrechen und es wieder auf seinen instrumentalen Charakter zurückzuführen. Der religionskritische Auftrag, nichts Menschliches zum Gott zu machen, hat in unserer Zeit des Finanzialismus allergrösste Aktualität.

Christliche Theologie stellt der Vergöttlichung des Menschlichen die Menschwerdung Gottes entgegen. Deren Unvereinbarkeit verleiht christlicher Religionskritik ihre Prägnanz. Die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch, die den Kern jeder Theologie bildet, konkretisiert sich in dem Gegensatz zwischen der Menschwerdung Gottes und der Vergötzung des Menschen sowie seiner Hervorbringungen. Mit der Menschwerdung Gottes verbindet sich die Befreiung vom Vergötzungswahn des Menschen; darin liegt ein entscheidender und prägnanter Beitrag der christlichen Religion zum Umgang des Menschen mit seiner endlichen Freiheit.