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Fabrizio Zilibotti, welches sind die demografischen Besonderheiten Chinas?
Fabrizio Zilibotti: China ist mit einem ernsthaften Überalterungsproblem konfrontiert. In den 1960er-Jahren war die Geburtenrate sehr hoch, mit über fünf Kindern pro Frau. Das wirkte sich positiv auf die Wirtschaftsleistung aus: China hat heute einen hohen Anteil Erwerbstätiger an der Gesamtbevölkerung. Die Bevölkerung nahm aber derart stark zu, dass die Regierung 1979 die Ein-Kind-Politik eingeführt hat. Mit der Folge, dass nun viele Erwerbstätige aus dem Berufsleben ausscheiden, aber nicht durch neue Leistungserbringer ersetzt werden. China erlebt daher eine demografische Alterung, die doppelt so schwerwiegend ist wie jene in westlichen Ländern.
Ergibt sich daraus ein negativer Einfluss auf das Wachstum in China?
Fabrizio Zilibotti: Ja. Wahrscheinlich wird die demografische Alterung zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums führen. Es ist schwer vorstellbar, dass China weiterhin jedes Jahr um zehn Prozent wächst. Das würde bedeuten, dass Chinas Lebensstandard bald denjenigen in westlichen Ländern übertreffen würde. Das glauben wir nicht. China wird künftig normalere Wachstumsraten haben. Die jetzigen sind getrieben von der Migration vom Land in die Städte, von technologischen Produktivitätsfortschritten. Beides wird mittelfristig zurückgehen. Wie schnell, hat wichtige Auswirkungen auf die Finanzierung des Pensionssystems.
Muss China sein Rentensystem also dringend reformieren?
Fabrizio Zilibotti: Das wird derzeit heftig debattiert. Soll China seine altersbedingten Transferleistungen schmälern? Das hängt mit einer grundlegenden Frage zusammen: Wie kann es China bewerkstelligen, möglichst Viele am Nutzen des Wachstums teilhaben zu lassen? China wächst zwar schnell, das Wohlstandsgefälle hat aber rapide zugenommen. Rentensysteme sind ein Weg, um den Ertrag wirtschaftlichen Wachstums zu verteilen. Schränkt China sein Pensionssystem ein, nimmt die soziale Ungerechtigkeit ungebremst zu.
Was soll China aus Ihrer Sicht unternehmen?
Fabrizio Zilibotti: Es braucht zweifellos Reformen. Aber nicht schon jetzt. Denn Chinas Wirtschaftsleistung wird weiterhin stark zunehmen, auch wenn sein Wachstum in den nächsten dreissig Jahren von zehn auf drei oder vier Prozent sinken wird. Das heisst, dass die Dringlichkeit, das Pensionssystem jetzt zu reformieren, nicht sehr gross ist. Künftig werden die Beitragszahlungen ausserdem auf den Schultern einer Bevölkerung lasten, die viel reicher ist als die jetzige. Wir meinen daher, dass China seine demografische Transition meistern wird, ohne vergleichbar gravierende negative Effekte wie in Japan.
Welches Modell der Altersvorsorge hat China?
Fabrizio Zilibotti: Im Staatskommunismus lag die Verantwortung bei den Firmen: Jeder Arbeiter hatte eine sichere Pension. Als der Markt eingeführt wurde, gingen einige der staatlichen Betriebe bankrott, das bisherige Rentensystem war nicht weiter aufrechtzuerhalten. Den Gemeinden wurde daher Anfang der 1990er-Jahre der Auftrag übertragen, Pensionsgelder einzuziehen und auszubezahlen. Viele Firmen zahlten jedoch ihre Beiträge nicht. Die Regierung zog daraufhin die Schraube an: Sie verpflichtete die Firmen zu Beitragszahlungen. Und sie setzte die Höhe der Rentenzahlungen herab, vergrösserte aber gleichzeitig den Anteil derjenigen, die davon profitierten. So sind heute immerhin sechzig Prozent der Erwerbstätigen in den Städten versichert.
Welche Möglichkeiten hat China, sein Rentensystem nachhaltig zu finanzieren?
Fabrizio Zilibotti: Entweder erhöht die Regierung die Beiträge der Leistungserbringer, oder sie senkt die staatlichen Rentenzahlungen. Eine weitere Lösungsmöglichkeit besteht darin, das Rentenalter zu erhöhen. Interessanterweise arbeiten die Chinesen hart, sie werden aber früh pensioniert, zwischen 55 und 60. Ihre Lebenserwartung ist zwar tiefer als im Westen, zurzeit 72 Jahre, aber sie steigt. Es wäre also denkbar, das Rentenalter auf 65 anzuheben.
Wie ernst nimmt die chinesische Regierung die gesellschaftliche Alterung?
Fabrizio Zilibotti: Die Regierung ist daran interessiert, ein glaubwürdiges, stabiles Pensionssystem zu haben – als Instrument, um Wohlstand umzuverteilen, aber auch, um politische Stabilität zu schaffen. Mittlerweile betrachtet die Mehrheit der chinesischen Wissenschaftler die Ein-Kind-Politik als ursächlich für die Bevölkerungsalterung und als reformbedürftig. Die Regierung aber sieht darin immer noch einen wichtigen Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg. Reformen werden daher nicht konsequent angepackt. Dennoch dürfen seit kurzem zwei Einzelkinder, die heiraten, in einigen Provinzen zwei Kinder haben. Dasselbe gilt auf dem Land, wenn das erste Kind ein Mädchen ist.
Wie entwickelt sich die Geburtenrate, wenn die Ein-Kind-Politik fallen gelassen würde?
Fabrizio Zilibotti: Generell wird erwartet, dass die Geburtenrate zunimmt. Wir glauben aber, dass sie vor allem in den Städten nicht markant ansteigen würde. Denn die Normen ändern sich. Zurzeit liegt Chinas Bevölkerungswachstum auf dem Niveau von Westeuropa. Wird die Ein-Kind-Politik fallen gelassen, dann schätzen wir, dass die Geburtenrate moderat von 1,6 auf 1,8 ansteigen wird. Irgendwann wird sich die Bevölkerung bei 1,2 Milliarden einpendeln.
Wird Chinas autokratisches politisches System von Dauer sein, wenn die Menschen reicher werden?
Fabrizio Zilibotti: Eine sehr schwierige Frage. Die chinesische Regierung war bisher recht erfolgreich, die Mittelklasse hinter sich zu scharen. Die Mittelklasse steht dem politischen System nicht etwa feindlich gegenüber, sie ist im Gegenteil eine seiner Stützen. Zumindest solange, wie sich ihre wirtschaftliche Situation verbessert. Heute kann die Regierung nicht mehr mit kruder Repression auf die Unzufriedenheit der Bürger reagieren. Auch ein autokratisches Regime braucht innere Stabilität. Die wirtschaftlichen Reformen werden helfen, diese Stabilität zu erhalten.
Arbeiten Sie mit Kollegen in China zusammen?
Fabrizio Zilibotti: Ja, die Türen stehen weit offen. Die Wissenschaft ist im Allgemeinen eine freie Welt. Ich war nie Opfer einer offensichtlichen Zensur. An den Universitäten wird vorbehaltlos diskutiert – ganz anders als im ehemaligen Ostblock, wo die Wände Ohren hatten. Die Regierung ist sehr interessiert, gemeinsam mit uns zu lernen. Will man über die Presse an die Öffentlichkeit gelangen, stösst man allerdings an Grenzen.