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«Mich grauste es, als ich bei der Vorbereitung für die Tagung eine Schilderung über die Optimierung der Sterbepflege las. Darin erstellt der Autor einen Katalog von Handlungsmustern, die Sterbende zum Objekt von Pflegestrategien machen. Mich graust es angesichts dieser Sprache», sagte die Medizinhistorikerin Barbara Duden zu Beginn ihres Vortrags auf dem juristischen Symposium über «Tod und tote Körper». Deshalb habe sie sich lange überlegt, ob sie überhaupt reden solle, denn ihr fehle zum einen die juristische Sachkenntnis und sie wolle zum anderen über das Thema Tod nicht akademisch sprechen.
«Tote Körper» als befremdliche Sammelkategorie
Seit den 70-er Jahren zeige sich, dass die Toten aus den Blicken, aus den Händen, den Häusern und Wohnungen verschwinden. Sie schaffen damit eine Leerstelle im Wissen der Angehörigen und Nachbarn. «Wenn die Verstorbenen sofort aus unserer Nähe entfernt werden und als ‚tote Körper’ an Dienstleistungsinstanzen abgegeben werden, wird das Wissen um die Sterblichkeit – die eigene und die des Nächsten – zerstört.»
Auch der Titel des Symposiums «Tod und tote Körper» befremde sie. «Sterbende, Leichname und Tote habe ich gesehen, aber tote Körper?» Diese Sammelkategorie mache das Sterben zu einer abstrakten Sache. Angesichts dieser Bangigkeit mit dem Thema halte sie sich bei ihrem Vortrag an die mittelalterliche Erkenntnis, dass nicht gedacht werden kann, was vorher nicht mit den Sinnen erfasst wurde. «Ich werde deshalb vom Umgang mit meinen liebsten Leichen erzählen», sagte Barbara Duden. Und deshalb, so Duden, werde im Folgenden vom Tod ihres Vaters die Rede sein.
Vom Tod des Vaters
Mit 17 Jahren war er mit Goethes Faust im Tornister und freiwillig in den ersten Weltkrieg gezogen. Zurück kam er mit den bleibenden Schäden einer Gasvergiftung. Die Panik vor dem Ersticken blieb ihm sein Leben lang. Als Barbara Dudens Vater mit über 70 Jahren ins Krankenhaus kam, sass Barbara Duden wochenlang an seinem Bett. Sie war aus Berlin angereist, wo sie damals studierte.
Sie fand den Vater in einer jämmerlichen Lage vor: In der Psychiatrischen Abteilung am Bett festgebunden, vor ihm ein Pfleger, der ihm den Kartoffelbrei fütterte und seine Wange tätschelte, damit er den Mund aufmachte.
Tags darauf, nachdem der Vater in der Nacht und im Traum von Flagfeuer gesprochen hatte, kam der leitende Arzt und verkündete sein Diktum: «Dekomposition der Zeit- und Raumwahrnehmung, Halluzination und Wahnvorstellungen.» Barbara Duden verstand, dass der Mann nichts von ihrem Vater verstanden hatte, und beschloss auf weitere Behandlung zu verzichten. So betreute sie ihn selbst in der Klinik. Langsam ging es ihm besser und er erkannte, dass die Alpfiguren, die sein Bett belagert hatten, zu früher gehörten. Die Aufregung, die mit der Verwechslung von Krankenstation und Grabenkrieg einhergegangen war, löste jedoch etwas später eine Magenblutung aus, weswegen der Vater notoperiert wurde. Er starb an den Folgen, ohne dass seine Tochter dabei gewesen war.
Barbara Duden erinnert sich noch gut an die gekachelte Station, in der sie den Toten das erste und das letzte Mal sah. Sie sah die Panik, die der Vater gehabt haben musste, an Spuren auf dem Oberkörper und den Armen – er hatte versucht, sich den Tubus und die Schläuche herauszureissen, wahrscheinlich aus Angst vor dem Ersticken.
«Vater starb klassisch, am Zusammenbruch seines Systems. Vor allem starb er heillos, allein ohne einen Menschen, der ihm geholfen hätte, in diesem Moment die medizinischen Schläuche und Geräte loszuwerden», bilanzierte Duden.
«Damals beschloss ich, niemals wieder einen mir lieben Menschen auf einer Bahre hinter einer Tür einfach verschwinden zu lassen. Ich würde versuchen, sobald irgend möglich dabei zu sein oder mich vor die Türe zu setzen und zu warten, was weiter geschieht.»
Im Folgenden erzählte Barbara Duden weitere drei Geschichten: Vom plötzlichen Tod einer befreundeten Hebamme, vom Sterben ihrer Mutter in einem Altersheim und vom Tod ihres Universitätskollegen Ivan Illich.