Navigation auf uzh.ch
Der Kirche laufen die Mitglieder davon. Die kürzlich veröffentlichte Studie «Die Zukunft der Reformierten» kommt zum Schluss, dass der Anteil der reformierten Bevölkerung bis 2050 von heute 33 auf 20 Prozent schrumpfen wird. Auftrageber der Untersuchung mit der alarmierenden Zahlen war der Schweizerische Evangelische Kirchenbund, das oberste Gremium der Reformierten in der Schweiz.
Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Noch bleibt Zeit, Gegensteuer zu geben und Aufgaben, Rolle und Strukturen der evangelisch reformierten Landeskirche neu zu denken und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Genau dies will das neugegründete Zentrum für Kirchenentwicklung (ZKE) der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Co-Leiter sind Thomas Schlag und Ralph Kunz, beide Professoren für Praktische Theologie. Geschäftsführerin ist Christina Aus der Au, Privatdozentin für Systematische Theologie an der Universität Basel.
Das Zentrum versteht sich als eine unabhängige wissenschaftliche Forschungseinrichtung, die «der Kirche nicht nach dem Mund redet», sagt Thomas Schlag. «Wir sehen uns als Scharnier zwischen Forschung und praktischer Theologie. Wir möchten zum Beispiel Kirchenleitungen oder auch Kirchgemeinden beraten, etwa bei strategischen Planungsprozessen oder der Qualitätsentwicklung. Wir wollen zudem durch unsere Forschung herausfinden, was die Kirche tun kann, um existentiellen Bedürfnissen nach Orientierung, Gemeinschaft und auch Spiritualität zeitgemäss gerecht zu werden.
Am Eröffnungssymposium des ZKE stand das Thema «Urbanität und Religiosität» im Zentrum der Diskussionen. Über 50 Theologinnen und Theologen aus der ganzen Schweiz, aber auch aus den Niederlanden, Deutschland, Frankreich und den USA debattierten, wie die Kirche wieder näher zu den Menschen kommt und welches die Gründe für den Bedeutungsverlust sind.
Schonungslos fiel die Kritik von Pfarrer Matthias Krieg, Leiter der Landeskirchlichen Dienste «Bildung und Gesellschaft» aus: Krieg sprach sich für eine Abkehr vom Konzept der «Volkskirche» aus, einem «Lieblingswort für manchen Kirchenführer». «Auf jedem Quadratmeter pastorale Vollversorgung von der Wiege bis zur Bahre – das geht nicht mehr», so sein Fazit. Vielmehr müsse die Kirche, gezielt die Bedürfnisse der Menschen und die «Milieus» ausfindig machen, wo religiöse Kompetenzen gefragt seien.
Henk de Roest, Professor für Praktische Theologie an der Protestantisch Theologischen Universität Leiden/Holland, zeigte am Beispiel der Reformierten in Amsterdam, was es heisst, die Kirche in der Krise wieder zum Leben zu erwecken.
In den 1970er Jahren habe in Amsterdam eine fast vollständige «Entkirchlichung» stattgefunden. Rund 30 Gotteshäuser seien mangels Kirchgängern abgerissen oder einer neuen Nutzung, zum Beispiel als Konzertlokal, zugeführt worden. Erst in den letzten Jahren habe dieser Prozess gestoppt werden können. Die aktuell rund 80 Kirchgemeinden seien zwar zum Teil nur zehn Mitglieder stark, dafür aber lokal verankert. «Wir haben dem Sterben rechtzeitig in die Augen geschaut und deshalb überlebt.»
Heute finden in Amsterdam reformierte Gottesdienste in 37 Sprachen statt. Pfarrer würden die Personen direkt auf der Strasse ansprechen. Seit kurzem fänden im Finanzviertel über Mittag Bibellesestunden für Banker statt, die regen Zuspruch finden. Die Kirche müsse aufhören sich in der Rolle des Opfers zu sehen und statt dessen wieder zur Akteurin werden.
Nicht nur die Zahl der Kirchemitglieder von heute gut 19'000 habe stabilisiert werden können, sondern auch die Einnahmen von jährlich 1,6 Millionen Euro, rund 2,1 Millionen Franken. Zum Vergleich: Der Evangelisch-Reformierten Landekirche des Kantons Zürich stehen allein für die Besoldung der rund 400 Pfarrerinnen und Pfarrer fast 50 Millionen Franken zur Verfügung, finanziert aus den Einnahmen der obligatorischen Kirchensteuer.
David Frenchak und Caraol Ann sind Mitglieder des Seminary Consortium for Urban Pastoral Education (Scupe) und kamen aus Chicago angereist. Scupe ist eine Weiterbildungseinrichtung, die sich auf die Kirchenarbeit in städtischen Verhältnissen konzentriert hat. Ihre Botschaft für die Pfarrpersonen aus der Schweiz war so radikal wie einfach: «Go out!» Um die Leute zu erreichen, gelte es die «Bequemzonen» zu verlassen. «Was ich an der Universität gelernt habe», so Reverend Frenchak, «hat mir für meine Arbeit nichts gebracht.»
Diese Aufforderung an die theologischen Praktiker und Praktikerinnen in der Schweiz lässt sich nicht nur als eine Art Fazit der Tagung verstehen, sondern auch als Teil des Auftrags für die künftige Arbeit des ZKE: Staub aufwirbeln, damit die Kirche nicht verkrustet.