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Herr Brugger, Herr Stephan vor zehn Jahren veranstalteten Universität und ETH Zürich die erste Brain Fair. Was sind rückblickend die wichtigsten Entwicklungen und Erkenntnisse in den Neurowissenschaften?
Klaas Enno Stephan: Ich sehe eine Reihe von Durchbrüchen, die auf verschiedenen Ebenen der Hirnforschung angesiedelt sind. Auf der genetischen Ebene ist ein wesentlicher Durchbruch die Einsicht, dass kognitive Funktionen im Allgemeinen, aber vor allem krankhafte Schädigungen dieser kognitiven Funktionen, nicht durch einzelne Gene vollständig bestimmt sind, sondern polygenetischer Natur sind.
Das bedeutet, dass viele Gene miteinander interagieren, von denen jedes nur einen kleinen Beitrag leistet. Und dass der Einfluss dieser Gene auf die kognitiven Prozesse sehr stark durch Umweltfaktoren bestimmt ist. Das hat unsere Sichtweise auf psychiatrische Erkrankungen stark verändert.
Wenn man eine Ebene höher geht – von der molekularen zur zellulären Ebene – dann war ein wesentlicher Durchbruch die Einsicht, dass das Gehirn eine Plastizität besitzt, die nicht nur im Kindesalter gegeben ist, sondern die lebenslang anhält.
Auf der Systemebene schliesslich sind wesentliche Durchbrüche im Bereich des Computational Modelling und dem Computational Neuroimaging erzielt worden. Wir verfügen jetzt über eine Reihe von Modellen, mit denen wir Lern- und Entscheidungsprozesse mathematisch präzise beschreiben können.
Peter Brugger: Heute ist man glücklicherweise etwas abgekommen von den bunten Bildchen, von der «Blobologie», die vermeintlich erlaubt, mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle des Gehirns zu zeigen und zu sagen: «Hier sitzt die Funktion X!»
Stattdessen denkt man eher in Begriffen der Vernetzung. Man richtet das Augenmerk auf Verbindungen zwischen Hirnarealen und nicht mehr so sehr auf einzelne Areale selber.
Interessant erscheint mir die Tatsache, dass mit zunehmendem Interesse an neuronaler Vernetzung auch die Vernetzung zwischen den Unterdisziplinen der Neurowissenschaften – etwa Neuropsychologie, Neuropharmakologie, Neurochirurgie – zugenommen hat.
Im Jahr 2000 lautete das Motto der ersten Brain Fair «Heraus aus dem Elfenbeinturm». Müssen die Neurowissenschaften zehn Jahre danach immer noch Berührungsängste überwinden?
Brugger: Nein, inzwischen sind die Neurowissenschaften enorme populär. Die Kluft zwischen Forschenden und interessierten Laien ist stark geschrumpft. Auf der anderen Seite ist in der Scientific Community die Tendenz zur Selbstkritik gewachsen.
Während zu Beginn des Jahrtausends die Farbenfreude der Forschenden bei der Bildgebung von wissenschaftskritischer Seite ironisch hervorgehoben wurde, kommt nun empirisch fundierte Kritik von Neurowissenschaftlern selbst: So wird etwa untersucht, welche Wirkung bestimmte Farbtöne für Hirnschnitte und Grafiken auf den Betrachter haben.
Wir selber untersuchen zurzeit den Wandel von Darstellungsformen in Fachzeitschriften zur Bildgebung von den ersten Publikationen bis heute.
Wie sind die Erkenntnisse der Neurowissenschaften in unsere alltägliche Lebenswelt eingeflossen?
Stephan: Die Einsichten in die anhaltende Plastizität des Gehirns erlauben uns, einen neuen Blick auf das Alter zu werfen. Deutlich wird die Notwendigkeit, uns bis ins hohe Alter intellektuell zu stimulieren. Denn synaptische Plastizität ist abhängig von neuronaler Aktivität.
Die Einsicht in die Interaktion von Umweltfaktoren und genetischen Faktoren hat uns zudem ein anderes Verständnis für psychiatrische Erkrankungen geliefert, insbesondere wissen wir jetzt besser, dass diese Erkrankungen heterogener sind als angenommen.
Es gibt ein Spektrum unterschiedlicher Krankheitstypen, das in jeder Erkrankung enthalten ist. Grund dafür ist eine unterschiedliche Mischung von umweltbedingten und genetischen Faktoren.
Welches sind die Fragen, die Sie persönlich am meisten interessieren?
Brugger: Mich interessiert brennend, welche Mechanismen der altbekannten, aber weitgehend anekdotischen Weisheit zugrunde liegen, wonach Genie und Wahnsinn grundsätzliche Gemeinsamkeiten zeigen.
Wir nehmen an, dass sie in Assoziationsvorgängen begründet sind – seit mehr als einem Jahrhundert ist bekannt, dass psychotische Patienten weiter und ungebremster assoziieren als nicht-psychotische Psychiatriepatienten oder Gesunde.
Unübliches Assoziieren, das sich sowohl bei akut psychotischen als auch bei hochkreativen Menschen zeigt, könnte durch Abweichungen entstehen, wie die beiden Hirnhälften eines Menschen normalerweise zusammenarbeiten.
Stephan: Ich benutze Computational Modelling und Neuroimaging, um Mechanismen neuronaler Systeme zu entschlüsseln – zum Beispiel im Hinblick auf synaptische Plastizität und Neuromodulation.
Ich versuche vor allem, die Mechanismen zu verstehen, auf denen sowohl normales wie auch pathologisches Lernen und Entscheiden abläuft. Das ist sehr interessant für psychiatrische Erkrankungen, die man allgemein als fehlgeleitete Anpassungsreaktionen auf die Umwelt beschreiben könnte.
Unser Ziel ist, dass Modelle, die wir erarbeiten, in absehbarer Zeit auch klinisch nützlich sein werden in der Diagnostik psychiatrischer und möglicherweise auch neurologischer Patienten.
Die Fortschritte in den Neurowissenschaften, aber auch ihre Popularität, sind eng mit den immer differenzierteren Möglichkeiten des Neuroimaging verbunden. Was ist der Erkenntnisgewinn solcher bildgebender Verfahren?
Stephan: Wenn man die Bildgebung richtig anwendet, kann man daraus einen enormen Erkenntnisgewinn ziehen. Heute wird immer stärker daran gearbeitet, mechanistische Theorien zu testen. Zum Beispiel, dass man während eines Lern- oder Entscheidungsprozesses ganz bestimmte neuronale Verbindungen nutzt, oder dass die Plastizität einer solchen Verbindung zwischen Hirnarealen einer bestimmten mathematischen Funkton gehorcht.
Der Trend in den Neurowissenschaften geht also weg von einer beschreibenden Analyse hin zu einer modellbasierten Hypothesenprüfung.
Welches sind aus Ihrer Sicht die grossen Fragen, mit denen sich die Neurowissenschaften heute und in den nächsten Jahren beschäftigen muss?
Brugger: Wie hängen Körper und Selbst zusammen? Woher kommt diese Selbstverständlichkeit, mit der wir unser Selbst geradezu gleichsetzen mit unserem Körper? Geht nicht die Vielfalt unseres körperlichen Seins um Dimensionen über den Klumpen Fleisch hinaus, den wir als «unseren Körper» erkennen?
In unserer Abteilung versuchen wir, diese und ähnliche Fragen zu beantworten, indem wir Störungen in der Einheit von Körper und Selbst untersuchen. Wie ist es möglich, dass ein normal entwickelter Körperteil, etwa ein Arm oder ein Bein, von Patienten als so störend empfunden wird, dass seine Amputation zum sehnlichsten Wunsch wird?
Hier sehen wir Gemeinsamkeiten zur (seltenen) Beobachtung von Phantomempfindungen von seit Geburt fehlenden Gliedmassen. In diesem Fall haben wir es mit einer Animation von etwas physisch nicht Ausgebildetem zu tun (einem Phantom); im Falle des Amputationswunsches ist umgekehrt etwas, das organisch vollständig entwickelt ist, nicht «animiert», bleibt unbeseelt und ist somit nicht ins eigene Selbst integriert.
Stephan: Einer der heute am intensivsten erforschten Bereiche ist die Translational Neuroscience, also die Umsetzung von Grundlagenwissen in die klinische Anwendung.
Diese Arbeit kann sich auf molekularer Ebene, aber auch auf der Systemebene abspielen – etwa indem man Computermodelle mit Daten aus dem Neuroimaging zusammenbringt, um pathophysiologische Prozesse zu erkennen und für diagnostische Zwecke einzusetzen. Das ist die Arbeit, die wir selber verfolgen.
Ein viel versprechendes Gebiet, das sich in den letzten Jahren entwickelt hat, ist die Neuroökonomie; hier in Zürich mit Weltrang vertreten von Ernst Fehr und anderen Kollegen am Institut für empirische Wirtschaftsforschung.
Die Neurokökonomie versucht besser zu verstehen, wie wir lernen und wie wir Entscheidungen treffen. So soll besser erklärt werden, weshalb Menschen so ökonomisch handeln, wie sie es in der Realität tun.
Schliesslich gibt es viel Forschung zur Epigenetik, die sich mit der Frage beschäftigt, wie sich genetische Einflüsse verändern können, ohne dass es zu Veränderungen der DNA-Sequenz kommt, etwa durch Umwelteinflüsse.