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Er ist kein Mediziner, und doch ist Rolf Rutishauser auf eine Augenkrankheit spezialisiert: die Pflanzenblindheit. Wer daran leidet, sollte einmal an einer Führung des Professors für Systematische Botanik durch den Irchelpark der Universität Zürich teilnehmen.
Zur raffinierten Dramaturgie dieser Nah-Exkursionen gehört es, dass der ignorante Besucher anfangs auf den Pflanzen herumtritt, die Rutishauser im nächsten Augenblick erläutert. Der Rundgang durch den Irchelpark beginnt nämlich nicht im unwegsamen Gebüsch, sondern zwischen den Belagssteinen des hochfrequentierten Platzes vor der Mensa.
«Das hier ist ein besonders fettes Exemplar von Arabidopsis, der Drosophila der Botanik», erklärt Rutishauser. Wie beim Modellorganismus der Taufliegenart ist auch bei dieser Pflanzenart das gesamte Genom bekannt. Das macht sie zum idealen Stoff für Laborexperimente. Nur bemerken viele Botaniker nicht, dass dieselbe Pflanze, mit der sie den ganzen langen Tag gearbeitet haben, auch gleich vor ihrer Türschwelle wächst. Ein gutes Bild auch für die von Rutishauser beobachtete Tendenz, dass Studierende lieber im Labor nach Genen fischen, statt draussen Pflanzen zu sammeln.
Die Teilnehmer der Führung steigen einen Hügel hinauf. Dort gibt es Organismen zu sehen, die ganz am Anfang der Evolutionsgeschichte stehen: Cyanobakterien – auch Sternschneuzer genannt: «Bei Nässe werden diese gallertartig. In China stehen sie auch auf dem Speiseplan.»
Nicht nur dort: Rutishauser hat die glibberige Masse selbst schon während eines Vortrags vor Publikum verspeist. Ein Kollege machte ihn allerdings danach darauf aufmerksam, dass die urtümlichen Organismen durchaus auch giftig sein können. Gleichwohl rät Rutishauser seinen Studentinnen und Studenten immer: «Nehmt alles in den Mund! Schliesslich hat der Mensch nicht umsonst fünf Sinne.»
Tatsächlich erkennt man den Thymian auch als Laie leicht am Geschmack. Und schon bald hat man zusammen mit Rutishauser den halben Park abgegrast.
Solche Erlebnisdidaktik kommt nicht nur bei der Studentenschaft gut an. Der 1949 geborene Sohn einer Thurgauer Bauernfamilie hält seine Führungen auch regelmässig für neue Mitarbeitende der UZH ab: «Dabei lerne ich immer wieder dazu. Eine italienische Hauswartin hat etwa versichert, dass der im Park wachsende wilde Oregano – neben der in der Küche oft verwendeten herkömmlichen Oregano-Art – auf jede Pizza gehört.»
Rutishauser wird dabei auch immer wieder klar, dass der Irchelpark für viele – ob für die Doktorandin oder den Raumpfleger – einen wertvollen Erholungsraum darstellt. Oder ein «Psychotop», wie er es gerne nennt. «Man muss sich fast 25 Jahre nach der Parkeröffnung in Erinnerung rufen, wie einschneidend der damalige Eingriff war. Mit der Winterthurerstrasse wurde eine der meistbefahrenen Ausfallstrassen mit einer breiten Fussgängerbrücke überdeckt – heute sind die Stufen darauf der Lieblingsplatz vieler Studierender.»
Auch aus botanischer Sicht ist der Park ein Erfolgsmodell: Zahlreiche bedrohte Pflanzenarten konnten hier erfolgreich «angesalbt» werden. «Diese Pflanze hier, der festknollige Lerchensporn, kommt im Kanton Zürich wild gar nicht vor», wundert sich Rutishauser. «Natürlich haben viele Arten das Messer am Hals – Stichwort Rückgang der Biodiversität. Hier kann ich den Führungsteilnehmenden aber anhand von konkreten Beispielen zeigen, dass es immer wieder einige durch den Flaschenhals schaffen. So etwa der Bitterling, ein Enzianverwandter, am Lehmhang unterhalb der Hauptbibliothek Irchel. Es ist mir wichtig, diesen Optimismus an junge Leute weiterzugeben.»
Dasselbe tut er auch im neuen botanischen Garten im Zürcher Seefeld: Der begnadete Vermittler wollte ursprünglich Mittelschullehrer werden. Doch es kam anders. Die Forschung liess ihn nicht mehr los. Nach einem Postdoc in Kanada kehrte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Universität Zürich zurück. Sein didaktisches Flair kam auch hier zum Tragen: Ein Viertel seiner Arbeitszeit war im botanischen Garten allein für den Auskunftsdienst reserviert. Daneben organisierte Rutishauser Ausstellungen und hielt Vorträge, immer auch im direkten Kontakt mit interessierten Laien.
Obwohl die Gratwanderung zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Akademie auch in seiner jetzigen Position als Titularprofessor weitergeht, steht mittlerweile etwas mehr Zeit für die Forschung zur Verfügung. «In meinem Spezialgebiet der Fuzzy Morphology geht es um verschwimmende Grenzen in der Pflanzenbeschreibung: Um die Frage, ob im Zweig einer Blütenpflanze nicht immer auch ein bisschen Laubblatt steckt oder ob ein Blatt nicht auch einem abgeflachten Zweig entspricht. Wichtig ist, dass man in der Pflanzenmorphologie und Entwicklungsgenetik verschiedene Perspektiven ernst nimmt. Also auch einmal das Matterhorn von hinten anschaut.»