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Im wissenschaftlichen Publikationswesen ist auf leisen Sohlen seit längerem eine Revolution im Gange, die dramatischere Auswirkungen auf den Informationsfluss haben wird als der gegenwärtige Hype um das populäre E-Book. Heutzutage kann man davon ausgehen, dass jede gedruckte wissenschaftliche Publikation grundsätzlich auch in elektronischer Form vorliegt.
Online first
Weltweit führende Wissenschaftsverlage haben begonnen, die Prioritäten neu zu setzen: Zeitschriften werden «online first» aufgeschaltet, Nachschlagewerke primär elektronisch angeboten, einzelne Titel werden gar nicht mehr gedruckt – ein Beispiel ist die «Encyclopedia of neuroscience» von Academic Press.
Im Zeitschriftenbereich ist diese Entwicklung am weitesten fortgeschritten: Die Anzahl der in der Zentralbibliothek und im Campusbereich der Universität Zürich verfügbaren elektronischen Zeitschriften ist von 1285 Titeln 2001 auf aktuell gegen 45’000 Titel explodiert. In diesen Zahlen sind teuer lizenzierte und frei im Internet zugängliche Open-Access-Titel enthalten.
Was genau ist ein E-Book?
Im Bereich der elektronischen Bücher ist die Situation unübersichtlich. Zunächst einmal muss die Frage beantwortet werden, was überhaupt unter einem E-Book zu verstehen ist. Die Antwort ist nicht so trivial, wie man vielleicht vermuten würde. Dies liegt hauptsächlich am Einfallsreichtum der Verlage, wie man alte und neue Texte elektronisch anbieten kann.
Da sind zunächst einmal die grossen Volltextsammlungen zu erwähnen, die unter einer einheitlichen Datenbank-Suchoberfläche eine riesige Menge von elektronischen Texten zur Verfügung stellen. Schon seit längerem gibt es zudem die Volltexte wichtiger Autorinnen und Autoren wie Virginia Woolf, Franz Kafka oder Marcel Proust als Volltextdatenbanken.
Der einzelne Titel verschwindet dabei hinter der – manchmal noch aus der Zeit der CD-ROM-Datenbanken stammenden – Suchoberfläche, hat zum Teil kein buchähnliches Layout und dient am besten als Stichwortspeicher für die wissenschaftliche Recherche nach Begriffen, Motiven und Konzepten im Kontext von Textstellen. Sind das nun E-Books oder nicht? Eine Frage, die im übrigen auch für die Bestandes-Statistiken der Bibliotheken nicht ganz unwichtig ist.
100'000 Kapitel heruntergeladen
E-Books im engeren Sinn, nämlich Monographien mit abgeschlossenem Inhalt und Umfang, dringen seit einigen Jahren aus dem naturwissenschaftlichen Bereich auch in die Geistes- und Sozialwissenschaften vor.
2008 hat die Zentralbibliothek Zürich deshalb gemeinsam mit der Hauptbibliothek Universität Zürich begonnen, in grösserem Stil wissenschaftliche E-Books zu kaufen; bis Ende 2009 wurden gegen 6000 Titel erworben. Wie bei den wissenschaftlichen Zeitschriften ist auch bei diesen E-Books der Zugriff auf den IP-Bereich der Universität Zürich beschränkt.
Die Nutzungsstatistiken zeigen, dass das Angebot innerhalb der Universität Zürich angenommen wird: 2009 wurden über 100'000 Kapitel heruntergeladen.
Verloren im «wilden Web»
Neben allen diesen lizenzierten, kontrollierten Angeboten steht ein riesiger weiterer Volltextspeicher: das Web. Das grosse weite Internet – hier verstanden als «das frei zugängliche, mit Suchmaschinen wie Google erschlossene Web» – ist selbstverständlich auch ein «Anbieter» von E-Books.
Das Projekt «Gutenberg» oder das gigantische Unterfangen «Google Books» sind bekannte neue und alte Grössen. Urheberrechtsfreie Titel des frühen 20. Jahrhunderts und ältere finden sich im Web in grosser Zahl – eingescannt von unterschiedlichsten Personen und Organisationen aus Buchvorlagen verschiedenster Provenienz, abgelegt auf Internetplattformen aller Art.
Die Schwierigkeiten dabei sind «typisch Web». An die Texte heranzukommen ist einfach: Erreichbar, auffindbar ist dank Google alles, was sich Google nicht entziehen oder was Google selbst nicht finden will.
Problematisch sind ganz andere, grundlegende Fragen: Ist der heute gefundene Titel morgen noch an der angegebenen Adresse abgelegt? In welcher Edition oder Version liegt der Text vor, welches gedruckte Original liegt ihm zugrunde? Ist der «Provider» vertrauenerweckend – schliesslich will man sich auf einen vollständigen, korrekt paginierten Text beziehen.
Das Buch als Luxusprodukt
Was bedeutet das alles für die Zukunft des Buches? In der Wissenschaft wird sich das elektronische Buch für die Neuerscheinungen immer stärker durchsetzen, analog zu den wissenschaftlichen Zeitschriften.
Lexika und Lehrbücher mit ihren rasch veraltenden, häufig zu aktualisierenden Informationen wandern fast vollständig in den elektronischen Bereich ab – Wikipedia hat ja schon heute den Brockhaus ersetzt. Speziellere Publikationen werden nach dem Prinzip «Print on demand» angeboten werden.
Offen bleibt, was mit all der in Buchform gespeicherten Information älteren, aber durchaus noch nicht urheberrechtsfreien Datums passiert. Wird sie von Google eingescannt? Und wenn nicht, wird sie im digitalen Ozean unsichtbar? Und wer kümmert sich um die Langzeitarchivierung all der «Bits» und «Bytes»?
Lesen für vertieftes Lernen sowie Lesen in der Freizeit stellt höhere Anforderungen an die Ästhetik der Textpräsentation. Eine schön gestaltete Seite entspannt den Leser. Das Haptische des Buches mit seinen unterschiedlichen Formaten, der Geruch von Papier und Druckerschwärze tragen zum «Besitz» des Buches und seines Inhalts bei, machen ein Buch zum persönlichen Exemplar mit Lesespuren und Erinnerungen.
Bildschirme hingegen, die neutral-kühlen Eingangstore in die digitalen Weiten des Internets, verweisen eher auf die Unsicherheit, wie lange der elektronisch vorgehaltene Text noch in dieser Form, mit diesem Inhalt zur Verfügung stehen wird. Die Veränderungsgefahr ist real, und Veränderung verunsichert den Menschen. Zwischen Inhalt und Leser zieht der Bildschirm eine transparente Wand.
Die Vorteile der elektronischen Lesegeräte andererseits – ganze Bibliotheken in einem Gerät von der Grösse eines Taschenbuchs! – werden dem elektronischen Buch gerade in der Belletristik zu einem schönen Marktanteil zumal bei der jüngeren Generation verhelfen, unterstützt durch die wirtschaftlichen Erwägungen der Verlage, die sich die teuren Druck- und Lagerkosten sparen können.
Das schöne Buch wird es dabei immer geben, besonders auch das illustrierte Werk – Liebhaberobjekt für einen Nischenmarkt als «Luxusprodukt»?