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Repatriierung

Das Ende einer 129 Jahre langen Reise

Eine schlichte Zeremonie mit weissen Rosen: Gestern Montag nahmen fünf chilenische Ureinwohner an der Universität Zürich die sterblichen Überreste ihrer Vorfahren entgegen. Der Akt fand im Beisein von Rektor Andreas Fischer und des chilenischen Konsuls statt. Eine unglückliche Geschichte findet damit zu einem würdevollen Ende. 
Sascha Renner

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«Die Wilden» von den Feuerlandinseln: 1882 starben in Zürich die fünf Chilenen, die Teil einer Völkerschau waren.

Es ist das Ende einer langen, ja einer jahrhundertelangen Reise. Am Montagabend stiegen Christoph Zollikofer, Professor für Anthropologie an der Universität Zürich, und fünf Kawesqar- und Yahgan-Indianer gemeinsam in ein Flugzeug nach Chile. Im Handgepäck trugen sie fünf schmucklose Kisten. Sie enthalten die sterblichen Überreste – die Skelette – von fünf patagonischen Ureinwohnern, die vor 129 Jahren in die Schweiz kamen und in Zürich verstarben.

Ziel der schweizerisch-chilenischen Delegation ist eine kleine, kaum bekannte Insel in der stürmischen Magellan-Strasse. Dort sollen die Überreste in wenigen Tagen nach den alten Riten der südamerikanischen Indianer beigesetzt werden. Der Bestattungsort könnte auf derselben Insel liegen, wo die Reise der fünf Patagonier 1881 ihren Anfang nahm – so genau kennt niemand mehr ihren einstigen Heimatort.

Trugbild des primitiven Menschen

Er lag jedoch aus europäischer Sicht am Ende der Welt. Schon Charles Darwin waren die Bewohner Feuerlands 1832 auf seiner Weltumseglung als die «verächtlichsten und elendsten Geschöpfe» aufgefallen, «die ich jemals angetroffen habe» – das Trugbild von der primitivsten aller Menschenrassen war geboren, mit schwerwiegenden Folgen, wie sich zeigen sollte.

Rektor Andreas Fischer trug sich an der Zeremonie in das Kondolenzbuch ein.

Fünfzig Jahre nach Darwin fand ein chilenischer Seehundjäger nahe am Kap Hoorn eine Gruppe halb verhungerter «Feuerländer», wie später berichtet wurde. Er brachte sie ans Festland, wo ein Hamburger Kapitän sie auf sein Frachtschiff nahm, in der Hoffnung auf ein Geschäft. Um alles weitere kümmerte sich nach der Ankunft in Le Havre der berühmte Tierhändler Carl Hagenbeck. Er hatte bereits mehrere Völkerschauen in ganz Europa organisiert.

Menschenunwürdiges Spektakel an der Plattenstrasse

In einer Zeit, bevor es Fernsehen und Internet gab, waren Spektakel wie die Zurschaustellung exotischer «Menschenrassen» äusserst beliebt. Auch die Feuerländer waren ein Publikumserfolg: Hagenbeck schickte die Gruppe auf eine siebenmonatige Tournee. Allein in Paris zog die Vorführung eine halbe Million Besucher an. Über Leipzig, Stuttgart, München und Nürnberg kam die Gruppe am 17. Februar 1882 auch in die Schweiz.

Die erste Adresse für Schaustellungen jener Art, von Bauchrednern bis hin zu dressierten Bären, war damals das Plattentheater am Zürichberg – dort, wo heute das Personal-Hochhaus des Universitätsspitals steht. Am 18. Februar war Premiere, das Theater schon am frühen Morgen ausverkauft. Dies, obwohl der Eintritt das Anderthalbfache dessen kostete, was für ein Extrakonzert des Tonhalleorchesters zu bezahlen war.

Es sei ein bewegender Moment gewesen, die Gebeine entgegenzunehmen: Abgesandte der Volksstämme der Kawesqar und der Yahgan.

Der Zürcher Veranstalter hatte extra ein offenes Feuer auf der Bühne installiert, um das herum die «Wilden von den Feuerlandinseln», wie es im Anzeigentext hiess, sich niederlassen und ein möglichst natürliches Leben führen sollten. Doch die Gruppe erkrankte schon bald. Sämtliche Mitglieder waren erkältet. Einige bekamen rote Flecken am ganzen Körper.

Tod durch Lungenentzündung und Masern

Ein Arzt, Privatdozent an der Universität Zürich, intervenierte beim Polizeivorstand und verlangte die Beendigung des menschenunwürdigen Spektakels. Die Zeitungen diskutierten die Schau lebhaft – mal verurteilten sie die Vorführung als neue Form des Menschenhandels, mal zitierten sie sie als Beispiel für die rassische Überlegenheit der Kaukasier. Eine Zeitung berichtete, die «Feuerländer» hätten ausschliesslich Innereien verzehrt, am liebsten roh und halb verfault. Bis Ende März waren fünf an Masern und Lungenentzündung gestorben.

Ihre Leichen wurden ans Anatomische Institut der Universität Zürich gebracht und später ans Anthropologische Institut. Dort lagerten die Gebeine bis zum 11. Januar 2010. Ein chilenisches Dokumentarfilmteam verfolgte die Fährte der Patagonier durch ganz Europa und bis in die Schweiz. Sie stellten auch den Kontakt zwischen den Nachkommen der Indianer und Christoph Zollikofer her. Die Universität ging umgehend auf den Antrag der chilenischen Ureinwohner auf Repatriierung der Skelette ein.

Eine schlichte, würdevolle Zeremonie

Es sei nicht üblich, sagte Christoph Zollikofer auf Anfrage, dass Repatriierungsanträgen stattgegeben werde. Zum einen sei es bisweilen fraglich, ob die Antragssteller auch die rechtmässigen Vertreter einer Volksgruppe seien. Zum andern würden dabei empirische Daten vernichtet, die indigene Wissenschaftsvertreter künftig für eigene Fragestellungen nutzen könnten.

In diesem Fall jedoch handle es sich um eindeutig identifizierbare Personen, so Zollikofer. Ihre unglückliche Geschichte sei detailreich dokumentiert. Zu verdanken ist dies der Zürcher Autorin Rea Brändle. Sie hat den Fall in ihrem 1996 erschienenen Buch «Wildfremd, Hautnah: Völkerschauen und Schauplätze Zürich 1880–1960» minutiös aufgearbeitet und ans Licht gebracht.

Es war eine schlichte, würdevolle und rührende Zeremonie, mit der die sterblichen Überreste der fünf Patagonier gestern Montag den Vertretern ihres Volkes übergeben wurden. Rektor Andreas Fischer, Dekan Michael Hengartner und Institutsleiter Carel van Schaik wie auch der chilenische Konsul hatten sich dazu im Anthropologischen Institut versammelt.

Christoph Zollikofer legte eine weisse Rosen auf jede der Boxen mit den Gebeinen. Sichtbar ergriffen erklärte eine Sprecherin der Ureinwohner, wie bedeutsam und aufwühlend dieser Moment für sie und ihr Volk sei. Der chilenische Konsul unterstrich die Wichtigkeit der Rückführung für sein Land. Bezeugt werde dies mit dem Empfang der Delegation durch die chilenische Präsidentin, Michelle Bachelet.