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Ingeborg-Bachmann-Preis

It is that time of the year

Jens Petersen, Neurologe am Universitätsspital, bringt den begehrten Ingeborg-Bachmann-Preis nach Zürich. Er ist nicht der erste schreibende Arzt, der zu hohen literarischen Ehren kommt. Die Redaktion von UZH News hat das Jury-Mitglied Hildegard Elisabeth Keller, Titularprofessorin an der UZH, um einige Impressionen zum diesjährigen Wettlesen gebeten.
Hildegard Elisabeth Keller

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Hildegard Elisabeth Keller, Titularprofessorin an der UZH, war erstmals Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2009.

Der diesjährige Bachmannpreisträger Jens Petersen steht in der langen Tradition von Schriftsteller-Ärzten, welche die deutschsprachige Literatur seit dem späten Mittelalter immer wieder belebt hat. Im Jahr 2004 wurde in Klagenfurt mit Uwe Tellkamp ebenfalls ein Arzt ausgezeichnet und 1995 war der Zürcher Arzt Enrico Danieli ans Wettlesen eingeladen.

Schreibende Zürcher Ärzte

Jens Petersen ist auch nicht der erste schreibende Wahlzürcher Mediziner, der eine literarische Auszeichnung erhielt. Im Jahr 1550 wurde der Konstanzer Jakob Ruf, Zürcher Stadtschnittarzt und Schriftsteller, für sein letztes Theaterstück «Adam und Eva» mit einer Ehrenmedaille ausgezeichnet.

Petersens Text «Bis dass der Tod» greift ein fundamentales und heute mehr denn je gesellschaftlich relevantes Thema auf, das Verfügungsrecht über das Leben. Der Arzt erzählt in einer nüchternen, präzisen Sprache von einer Konstellation, die er in der beruflichen Praxis eindringlich kennengelernt haben dürfte: das langsame Sterben eines Menschen, den man liebt. Die atmosphärisch dichte Erzählung zeigt ein Liebespaar am Rande der Existenz.

Konzeption nochmals überdenken

Ein Mann, der seine todkranke Geliebte durch die letzten Stunden ihres Lebens trägt, beschliesst, die Frau und sich selbst zu töten. Nach einer kurzen Autofahrt tötet er sie mit einem Kopfschuss, doch der Mut, sich selbst zu erschiessen, kommt ihm nach der Tat abhanden. Er legt die Pistole weg, steigt aus dem Auto, kann nicht mehr denken, nur noch gehen: «Er marschiert auf den Bahndamm zu.» Die Leser bleiben mit diesem letzten Satz alleine, die beklemmende Geschichte – und damit der ganze Roman, aus dem der in Klagenfurt prämierte Text stammt – hat ein offenes Ende.

Nach der Preisübergabe am letzten Sonntag interviewte das 3sat-Moderationsteam (Eva Wannenmacher und Andreas Isenschmid) Burkard Spinnen (Jens Petersen war einer seiner beiden Kandidaten), den Bachmannpreisträger Jens Petersen und mich. Wir wurden nach unseren Erfahrungen befragt. Der preisgekrönte Autor meinte, die öffentliche Lesung seines Texts und die anschliessende Jury-Diskussion hätten ihn dazu anregt, die Konzeption seines Romans nochmals zu überdenken.

Er könne sich nun vorstellen, den vorgelesenen Text nicht mehr wie geplant an den Schluss zu stellen, sondern ihn als Einstiegskapitel zu verwenden.

It is that time of the year

Ende Juni lud die Landeshauptstadt Kärntens grosszügig zum 33. Literaturbetriebsausflug ein. Vor laufender Kamera lasen vierzehn Autorinnen und Autoren je 25 Minuten um die Wette, und auch die siebenköpfige Jury diskutierte eine knappe halbe Stunde lang vor laufender Kamera.

Mit der Ermittlung der Preisträger und der Übergabe von Preisgeldern in der Gesamthöhe von 56'500 Euro steuerte die Veranstaltung dann am Sonntagmorgen auf ihren Höhepunkt zu. Neben dem Bachmannpreis vergab die Jury drei weitere Preise, und auch das Publikum wählte online einen Favoriten.

Kleines Klagenfurter Mysterium

Literaturwissenschaftler der Universität Zürich – bis jetzt zwei Professoren und eine Professorin der Philosophischen Fakultät – waren mehrfach in der Klagenfurter Jury aktiv. Als ich kurz vor Weihnachten 2008 in die Jury eingeladen wurde, sagte ich sehr gerne zu. Der «Bewerb» füllte schon bald darauf meine Bloomingtoner Mail-Box täglich neu, so dass unsere Sekretärinnen im Department mich mit immer grösseren Augen ansahen.

Viele Midwest-Wintertage lang arbeitete ich mich durch den hohen Stapel. Schliesslich entschied ich mich für die beiden Geschichten, die mich ästhetisch und thematisch am stärksten einfingen und die mir auch performativ vielversprechend schienen. Ich würde sie in den Klagenfurter Debatten überzeugt vertreten können, so stellte ich mir vor.

Der eine erhielt am letzten Sonntag den 3sat-Preis, der andere den Publikumspreis und ich bin glücklich, mein kleines Klagenfurter Mysterium erlebt zu haben: Aus einem anonymen Papierstapel die zwei gelungensten Texte auswählen – etliche Monate später zwei kluge, gewitzt und beseelt erzählende Menschen kennenlernen.

Brücke zwischen der mittelalterlichen Literatur und der Klagenfurter Gegenwart

Die Klagenfurter Veranstaltung bietet zeitgenössische Performanz von Literatur. Dies steht in der Tradition der Dichter- und Sängerwettstreite, Lesungen und Rezitationen vor Publikum. Diese Praxis des animierten Texts ist wesentlich für den mittelalterlichen Literaturbetrieb.

Sie ist mir als Mediävistin vertraut und stellte für mich eine Brücke zwischen der mittelalterlichen Literatur und der Klagenfurter Gegenwart dar. Der historisch geschärfte Blick für die jeweiligen medialen Bedingungen half mir bei den Jurydiskussionen.

Nun werde ich meine Erfahrungen aus der Klagenfurter Mediatisierung der Literatur – eigentlich aus der Televisionierung der Literatur und Literaturkritik (dank der Kooperation zwischen dem ORF-Landesstudio Kärnten und 3sat) – wieder nach Bloomington und in die Mediävistik mitnehmen. Ich freue mich auf den nächsten Dialog zwischen den Zeiten, Literaturen und Kontinenten.