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Wie können sich ein Christ und ein Hindu trotz unterschiedlicher religiöser Hintergründe unterhalten? Eine Frage, auf welche die Wissenschaft der Hermeneutik Antworten geben kann. Hermeneutik ist die Theorie der Auslegung und des Verstehens. Sie wird überall dort wichtig, wo Interpretationsarbeit und Verstehensprozesse kritisch reflektiert werden müssen. Entsprechend ist sie auch für den interreligiösen Dialog entscheidend.
Die Hermeneutik als theologische und philosophische Grundlagenwissenschaft war Thema einer Tagung am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR) an der Universität Zürich: «Hermeneutische Theologie – heute?». Anlass war die Publikation des Briefwechsels zwischen dem evangelischen Theologen Rudolf Bultmann und dem Philosophen Martin Heidegger. Bultmann wäre in diesem Jahr 125 Jahre alt geworden.
«Der interreligiöse Dialog gelingt auf der Basis einer Hermeneutik der Liebe», so die These des katholischen Theologen Werner G. Jeanrond aus Glasgow. Dass Jeanrond für eine Hermeneutik der Liebe plädiert, bedeutet nicht, dass er ein unverbesserlicher Romantiker ist. Seine Ansicht baut vielmehr auf der Auffassung auf, Liebe sei eine Beziehungsdimension, die geradezu von der Andersartigkeit der Liebenden lebe. «Die Andersartigkeit ist der Nährboden, auf dem Liebe gedeihen kann», so Jeanrond.
Jeanrond spricht sich damit für eine Hermeneutik der Differenz aus, die nicht von einem immer schon vorausgesetzten Einverständnis ausgeht. «Der Liebende liebt den Anderen gerade auch und speziell wegen seiner Andersartigkeit», so Jeanrond: «Auf dieser Basis können beispielsweise ein Christ und ein Hindu ins Gespräch kommen, ohne ihre Differenzen verleugnen zu müssen.»
Hermeneutik als Disziplin, ist aber nicht nur für den interreligiösen Dialog, sondern für die Theologie allgemein von grosser Bedeutung. Einerseits müssen in der Theologie biblische Texte interpretiert werden. Andererseits ist es eine wesentliche Frage der Theologie, wie sich der Mensch selbst im Kontext der Welt versteht und auslegt.
Die beiden Zürcher Theologieprofessoren Ingolf U. Dalferth, Direktor des IHR, und Pierre Bühler, ebenfalls in der Leitung des Instituts, beleuchteten an der Tagung die Anfänge der hermeneutischen Theologie in Zürich. Gerhard Ebeling gründete das IHR im Jahr 1962 und war sein erster Direktor, Eberhard Jüngel sein Nachfolger.
Aus der Zeit der Gründung des Instituts ist ein Foto erhalten geblieben, das Gerhard Ebeling in einem Seminar mit dem Hermeneutiker Martin Heidegger zeigt. Vor den Augen der Studierenden diskutieren sie vor der Wandtafel das Verhältnis von Theologie und Philosophie.
Es wirkte darum wie eine Weiterführung dieser Begegnung, als Bühler und Dalferth nach ihren Referaten im Gespräch ebenfalls mit Kreide ausgerüstet dem Publikum ihre unterschiedlichen Interpretationen der Theologie Ebelings vor Augen führten.
Doch nicht nur die Ausführungen von Dalferth und Bühler gaben an der Tagung zu reden. Neben Jeanronds Ansatz einer Hermeneutik der Liebe führten auch die Referate des Theologen und ehemaligen Rektors der Universität Zürich, Hans Weder, sowie des Marburger Theologen Jörg Lauster zu ebenso fruchtbaren wie kontroversen Diskussionen.
Weder machte sich für eine Deutung der Texte des Neuen Testaments stark, die die biblischen Gleichnisse als Metapher versteht. Lauster präsentierte eine Theorie der Religion als Lebensdeutung.
Einig war man sich am Ende darüber, dass der Hermeneutik in der Theologie nach wie vor eine überaus wichtige Rolle zukomme. Dass die präsentierten hermeneutischen Ansätze trotz ihrer Einigkeit im Grundanliegen auffällig stark divergieren, ist für Dalferth kein Anlass zu Sorge. Im Gegenteil: «Hermeneutische Theologie ist zum Glück kein einheitliches Verfahren. Die beste Ausgangslage für das Denken ist eine chaotische Mengenlage.»