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In diesen Tagen dreht sich alles ums runde Leder. Aus aktuellem Anlass kam man auch an der Arbeitsstelle für Hochschuldidaktik (AfH) der Universität Zürich in Spiellaune und zog sich, bildlich gesprochen, die Nockenschuhe über. AfH-Leiter Peter Tremp und seine Mannschaft liessen sich auf ein Gedankenexperiment ein: Sie klopften die universitäre Lehre nach Analogien zur schönsten Nebensache der Welt ab. Mit anderen Worten: sie nutzten die Fussballmetapher als Vehikel, um didaktische Fragen einmal aus ungewohnter Perspektive anzugehen.
Das Resultat ist eine unterhaltsam zu lesende Broschüre mit dem Titel «Standardsituationen», die kürzlich im Rahmen eines Apéros in den Räumlichkeiten der AfH vorgestellt wurde. Als Überraschungsgast beim Apéro trat Geri Müller auf, Nationalrat und Torhüter der Parlamentarier-Fussballmanschaft: «Im Fussball habe ich die konservativste Rolle – ich muss möglichst viel verhindern», sagte er im Interview mit Journalist Markus Binder. Aufgefordert, Ähnlichkeiten zwischen Fussball und Didaktik zu benennen, meinte er: «Sowohl im Seminarraum wie im Stadion ist unvorhersehbar, was geschieht, Fussballspieler und Dozenten müssen sich flexibel und kreativ auf ständig wechselnde Gegebenheiten einstellen.»
Kein Fussballmatch ist wie der andere, und auch der Reiz von Lehrveranstaltungen liegt nicht zuletzt in der Überraschung. Dennoch gibt es im Hörsaal wie im Stadion viele immer wiederkehrende Grundkonstellationen, die man trainieren kann – im Fussball spricht man in diesem Zusammenhang von «Standardsituationen». Der Begriff wurde in den siebziger Jahren im DDR-Fussball geprägt, wie man im Aufsatz des Historikers Christian Koller erfährt. Gemeint sind mit Standardsituationen vor allem Spielzüge, die von ruhenden Bällen ausgehen: Elfmeter, Freistoss, Eckball, Einwurf und Anstoss.
In Lehrveranstaltungen gibt es Sequenzen, die mit solchen «Standardsituationen» vergleichbar sind: Eröffnung oder Abschluss eines Seminars beispielsweise, oder die Gelenkstellen im Übergang von Plenums- zu Gruppenphasen. Der Ball liegt in solchen Momenten allein bei den Dozierenden.
«Bei Standardsituationen», so AfH-Leiter Peter Tremp, «wird der Fluss des Spiels unterbrochen, die Akteure können sich also neu ordnen.» Solche Momente sind im Voraus planbar und gestaltbar. Tremp plädiert in seinem Beitrag zur Broschüre für «kultivierte Routine in didaktischen Standardsituationen». Er empfiehlt Dozierenden, die Chance zu nutzen, sich wiederholende Unterrichtselemente einzuüben. Dies bedeute gerade nicht, Lehrveranstaltungen zu vereinheitlichen, sondern sei eine Voraussetzung dafür, auf eine Vielfalt unterschiedlicher und schwieriger Unterrichtsereignisse «routiniert, schnell und angemessen» reagieren zu können.
Spontaneität und Planung schliessen sich bei der Gestaltung von Lehrveranstaltungen nicht aus, im Gegenteil. Dieser Meinung sind auch Dozierende der Universität Zürich, die der Journalist Markus Binder für die Broschüre interviewt hat. Zum Beispiel Rechtsprofessorin Brigitte Tag: «Üben, üben, üben», sagt sie, sei die Voraussetzung für gute Didaktik. «Standardsituationen müssen beherrscht werden. Es ist aber wichtig, stets davon abweichen zu können. Man muss merken, was in der Stunde abgeht und flexibel reagieren können.»
Ähnlich formuliert es Kurt Reusser, Professor für Pädagogische Psychologie: «Es gibt keinen Durchmarsch zum garantierten Verstehen, genauso wie es keinen direkten Weg zum garantierten Tor gibt. Erfolgreiches Verstehen», so Reusser, «läuft über Querpässe, Tempowechsel und über einen freien Umgang mit dem Repertoire. Je qualitätsvoller dieses Repertoire aber ist, desto eher lassen sich daraus auch kreative Situationen – fruchtbare Momente im Bildungsprozess – erzeugen. Nur der vorbereitete Geist ist zu wirklicher Improvisation fähig.»
Auch Fussballer kommen in der Broschüre zu Wort: Daniel Jeandupeux, von 1986 bis 1989 Trainer der Schweizer Nationalmannschaft, misst den Standardsituationen besonders grosses Gewicht bei: «In meiner Zeit wurde die Hälfte der Tore aus Standardsituationen erzielt.» Parallelen zwischen Fussball- und Didaktik-Training kann sich der Coach durchaus vorstellen: «Man muss zuerst jene Situationen definieren, die sich immer wiederholen und diese dann einüben.»
Für «brutal wichtig» hält auch Jörg Stiel, ehemaliger Torhüter der Schweizer Nationalmannschaft, die Standardsituationen. Wer sie beherrsche, stehe weniger unter Druck und habe mehr Kapazität fürs freie Spiel. Martina Moser schliesslich, Mittelfeldspielerin der Schweizer Frauen A-Nationalmannschaft, bezeugt, dass der Drill beim Einüben von Freistössen und Penaltys durchaus auch Spass machen kann. «Aufs Tor zu schiessen ist etwas vom Besten», sagt sie. Man glaubt es ihr aufs Wort.