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Welche Bedeutung hat dieser Kongress für die Fachwelt?
Rolf Jeltsch: Das ist der weltweite Kongress, an dem sich die angewandte Mathematik trifft. Zu den Referentinnen und Referenten gehören aber nicht einfach nur die Besten der Besten, sondern auch eine Gruppe von hochaktiven Mathematikern von der Basis. Deshalb gibt es am ICIAM-Kongress so viele Vorträge, insgesamt über 2900. Die einen werden eingeladen, einen Vortrag zu halten, die anderen dürfen selber aktiv werden. Unser Ansatz ist ein bottom up-Ansatz.
Das klingt nach Olympiade, die nur alle vier Jahre stattfindet?
Jeltsch: Am ICIAM-Kongress misst man sich nicht mit anderen, es gibt keinen Wettbewerb. Im Gegensatz zur Olympiade will man hier Probleme zusammen lösen, man will sich austauschen und man zeigt den anderen, wie man etwas gelöst hat. Um ein Problem zu lösen, wollen alle etwas beitragen. Deshalb sind bei uns Patente kontraproduktiv. Ein Patent sagt: an diesem Problem arbeite nur ich. Das ist gegen die Forschung. Wir wollen offen sein.
Wie sind Sie dazu gekommen, diesen Grossanlass an der ETH und an der Universität Zürich durchzuführen?
Jeltsch: Dieser Anlass findet nur alle vier Jahre statt, letztmals 2003 in Sydney. Im Jahr 2000 machte mich der damalige ICIAM-Präsident, Professor Olavi Nevanlinna aus Helsinki, darauf aufmerksam, dass noch keine Bewerbung aus Europa für die Austragung des Kongresses eingegangen sei. Wenn Europa noch einmal leer ausgehen würde, käme eine ganze Generation von Mathematikern nicht dazu, an einem solchen Kongress teilzunehmen. Gutmütig wie ich bin, sagte ich zu, den Kongress in Zürich zu organisieren.
Wie lange dauerten die Vorbereitungen für den Kongress?
Jeltsch: Die Vorbereitungen haben im Mai 2000 begonnen. Damals stellte ich in Paris mein Kurzkonzept für den Kongress vor. Ich erhielt den Auftrag, bis im Dezember 2000 eine detaillierte Bewerbung zu erstellen. Damals zeigte es sich, dass neben Zürich auch Neu Delhi und Toronto im Rennen waren. Es folgte eine Site visit hier in Zürich und im Mai 2001 erhielten wir schliesslich den Zuschlag.
Wie viele Leute arbeiten an der Organisation mit?
Jeltsch: Die erste grosse Bewerbungsrunde im Dezember 2000 machten meine Sekretärin und ich allein. Dann suchten wir ein geeignetes Datum, um Überschneidungen mit anderen Grossanlässen zu vermeiden. Schliesslich zogen wir einen Kongressorganisator hinzu, damit wir uns auf den wissenschaftlichen Teil konzentrieren konnten. Im Moment arbeitet vor allem das ganze Departement Mathematik der ETH mit. Meine Mitarbeiter sind Group Leaders, die jetzt 100 Prozent für den Kongress arbeiten. Es helfen uns ebenfalls die Kollegen, Mitarbeitenden und Sekretärinnen der Universität Zürich und auch benachbarte Departemente an der ETH wie die Informatik und die Maschinenbauer.
Wie halten Sie den Überblick über dieses Monsterprogramm?
Jeltsch: Wir haben ein rigoroses System eingeführt. Wir wollen nicht, dass eine Person sieben Vorträge hält. Wenn jemand vier Vorschläge für Minisymposien eingereicht hat, darf er nur in einem einen Vortrag halten, es sei denn, er wird von einem anderen Minisymposium eingeladen. Mit 2900 Vorträgen ist das Programm sowieso schon immens gross.
Welches sind für Sie persönlich die Highlights des ICIAM-Kongresses?
Jeltsch: Praktisch jeder Hauptvortrag ist ein Höhepunkt. Brandneu sind die Ideen von Emmanuel Candès vom Caltech, der über Data mining, compressed sampling and compressed sensing spricht. Ein weiteres neues grosses Anwendungsgebiet ist die robuste konvexe Optimierung, welches Arkadi Nemirovski vom Georgia Tech vorstellt. Optimierungen braucht es um zum Beispiel einen Fahrplan zu gestalten. Ein Highlight ist für mich, dass wir es geschafft haben, die Industrie einzubinden, wie die Firmen IBM und Vodafone. Auch die Teilnahme von Entwicklungsländern war mir ein wichtiges Anliegen. So haben wir eine Session für Afrika, sie behandelt Probleme wie die Ausbreitung von AIDS oder die Abfallentsorgung.
Welche Trends in der Angewandten Mathematik zeichnen sich an diesem Kongress ab?
Jeltsch: Früher brauchte es die Angewandte Mathematik vor allem für technische Anwendungen oder in der Physik. Anwendungen in Biologie und Medizin nehmen stark zu. Heute berechnet man mit mathematischen Modellen die Faltung von Proteinen, wie sich ein Medikament im Körper verteilt oder wie sich Plaque in einer Aorta ablagert. Das sind komplizierte Dinge. Immer häufiger braucht es Mathematik in der Lebensmitteltechnologie, beispielsweise um zu berechnen wie Schokolade kristallisiert. Im Trend liegen zudem das Financial Engineering, Risk Management in Finance and Energy sowie die Modellierung von neuen Materialien und ihren Eigenschaften. Man geht immer tiefer in die Quantenmechanik ein, etwa bei der Frge, wie Risse entstehen.
Offenbar ist in der Wirtschaft die Nachfrage nach Angewandter Mathematik vorhanden. Wo arbeiten Mathematiker in der Praxis?
Jeltsch: Bei Banken, Versicherungen oder Beratungsfirmen. Angewandte Mathematiker sind nicht unbedingt besser als «reine». Banken zum Beispiel stellen gerne Mathematiker ein, die komplizierte Prozesse durchdenken und berechnen können. Das kann auch ein reiner Mathematiker, wenn er willens ist, das zu tun. Die Industrie zieht im Moment mehr Leute an als die Forschung.