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Spielend die Welt verstehen

Kinder erforschen, erkennen und reflektieren die Welt im Spiel. Das Spielverhalten des Kindes lässt Rückschlüsse auf den Stand kindlicher Entwicklung zu. Auf der Frühlingstagung der entwicklungspädiatrischen Abteilung des Kinderspitals analysierten Fachleute am Donnerstag letzter Woche Aspekte des kindlichen Spiels für die therapeutische Praxis.
Marita Fuchs

Im Alltag können die Erfahrungs- und Bewusstseinswelten von Kindern und ihren Eltern aufeinander prallen – beim Zeitempfinden ist das besonders anschaulich zu beobachten. So entwickeln Kinder erst relativ spät, Ende der Grundschulzeit, ein Verständnis dafür, was die abstrakten Zeitmasse Stunde und Minute bedeuten.

Die frühkindliche Entwicklung läuft in Etappen ab und geht mit dem Erwerb kognitiver Leistungen einher. Meilensteine auf diesem Weg sind die Fähigkeit zu kategorisieren, die Entwicklung eines Ich-Bewusstseins und die Ausarbeitung einer «Theory of Mind», womit die Fähigkeit gemeint ist, sich in das Denken anderer Menschen hineinzuversetzen.

Rotes Klötzchen in die rote Kiste

Der Pädiater und ehemalige Leiter der Abteilung Wachstum und Entwicklung des Universitäts-Kinderspitals Professor Remo Largo erläuterte die zeitliche Abfolge frühkindlicher kognitiver Prozesse anhand von Spielsituationen. Die Doktorandin Anne Richter ergänzte den Vortrag mit verschiedenen Videosequenzen. Spielen Kinder mit farbigen Klötzchen, zeigt sich schnell ihr Sinn für Kategorien und Ordnungsmuster. Mit etwa 24 Monaten ordnen Kinder zum Beispiel Klötzchen nach ihrer Farbe und deponieren sie in bereitgestellten gleichfarbigen Kästchen. Die Farben richtig benennen können die meisten Kinder in diesem Alter jedoch nicht. Bei Kindern mit geistigen Entwicklungsbehinderungen wird zumeist eine Beeinträchtigung der Kategorienbildung beobachtet.

Das Ich erkennen

«Das Selbsterkennen beinhaltet eine Abgrenzung von Ich und Aussenwelt, ein Bewusstwerden von sich selbst als eigenständiger und handelnder Person und die Differenzierung der sozialen Umwelt in Ich, Du, Wir», führte Remo Largo aus. Etwa mit 18 bis 24 Monaten erkennt sich das Kind im Spiegel als es selbst (kleinere Kinder suchen hinter dem Spiegel das Kind, das sie sehen). Sich selbst von anderen zu unterscheiden, sei auch eine wichtige Voraussetzung für empathisches Verhalten, meinte die Doktorandin Anne Richter. Kognitive Entwicklungsstörungen gehen häufig mit einem Entwicklungsrückstand der Ich-Entwicklung einher. Bei autistischen Kindern sei das Selbsterkennen oft erheblich verzögert, nicht selten bleibe es ganz aus, so Richter.

Spielkoffer: Je nach Umgang mit den verschiedenen Spielzeugen können Rückschlüsse auf den Entwicklungsstand eines Kindes gezogen werden.

Wo ist die Schokolade?

Grundlage der Entwicklung einer sogenannten «Theory of Mind» ist die Fähigkeit, zwischen mentaler und physikalischer Welt differenzieren zu können. Kinder im Alter von drei Jahren verstehen, dass Handlungsentscheidungen von Wünschen und Absichten der handelnden Person abhängen, und sie können Absichten einer Person vorhersagen. Ein übliches Untersuchungsparadigma für die «Theory of Mind» sind die so genannten «False Belief»-Aufgaben: Diesen liegt zu Grunde, dass Kinder erst ab einem bestimmten kognitiven Entwicklungsstand in der Lage sind, zu erkennen, dass andere Menschen Überzeugungen haben können, von denen das Kind weiss, dass sie falsch sind.

Anne Richter zeigte eine Videosequenz: die Puppe Maxi versteckt Schokolade in eine Kiste und geht auf den Spielplatz. In seiner Abwesenheit nimmt die Puppen-Freundin von Maxi die Schokolade aus der Kiste und legt sie in einen Korb. Danach verlässt auch sie den Raum. Maxi kommt zurück. Auf die Frage: Wo wird er die Schokolade suchen?, beantworten fast alle Kinder im Alter von 3 Jahren die Frage falsch, sie sagen, dass Maxi da nachschaue, wo die Schokolade tatsächlich ist (im Korb). Im Alter zwischen 3 und 4 Jahren lösen viele Kinder die Aufgabe jedoch richtig. Über alle Kulturen hinweg, sei diese Entwicklung gültig, sagte Anne Richter.

Man dürfe nicht vergessen, so Largo, dass Eltern und Kinderärzte sich der Entwicklungsstadien bewusst sein müssten, um die Kinder altersgerecht zu behandeln und sie weder zu über- noch zu unterfordern.

Doris Bischof-Köhler wies auf geschlechterspezifische Spielformen hin.

Raufende Jungen, fürsorgliche Mädchen

Doris Bischof-Köhler, Professorin für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wies auf Geschlechtsunterschiede beim kindlichen Spiel hin. Geschlechtstypische Unterschiede zählten zu den gesicherten Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, führte sie aus. Jungen betätigen sich eher grobmotorisch, raufen gern und spielen bevorzugt mit technischen Objekten, während Mädchen eine Vorliebe für fürsorgliche Tätigkeiten zeigen. Gesellschaftlich relevant sei es, wie mit dem kleinen Unterschied umgegangen werde, meinte Bischof-Köhler. Positive oder negative Bewertungen der geschlechtstypischen Verhaltensweisen seien kontraproduktiv. Eher solle man auf die Stärken und Schwächen jedes Geschlechts eingehen.

Das Spielverhalten gibt Kinderärzten Hinweise, ob Entwicklungsstörungen vorliegen, wie Oskar Jenni erläuterte.

Historische Konstanten im Spielverhalten

Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Zürcher Kinderspital, ging auf die Bedeutung des Spiels für die Kinderärzte ein. Anhand des Spielverhaltens erkenne der Kinderarzt eine mögliche Entwicklungsstörung und könne darauf reagieren. Verlaufe das Spielverhalten in den ersten 24 Monaten in den erwarteten Bahnen, könne man davon ausgehen, dass das Kind sich auch weiterhin «normal» entwickle. Interessant sei, auch historisch gesehen, die hohe Stabilität des Spielverhaltens. «Der Reiz, mit Klötzen zu bauen, ist über die Jahre geblieben», sagte Jenni.

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