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«Band läuft», tönt es aus dem Regieraum im Radiostudio Zürich. Sibylle Saxer nimmt einen Schluck Wasser, räuspert sich ein letztes Mal, dann spricht sie mit ruhiger Stimme ihren Beitrag über Matthias Zschokkes neuen Roman «Maurice mit Huhn» ins Mikrofon. Eigentlich doktoriert Sibylle Saxer in Germanistik an der Universität Zürich. Dass sie für einmal in die Rolle der Literaturkritikerin und Radiomacherin schlüpfen kann, macht ein einzigartiges Projekt möglich, das in Zusammenarbeit von Schweizer Radio DRS2 und dem Deutschen Seminar entstanden ist. Unter dem Titel «UNI Sono» sendet DRS2 am 22. Juni von 9 bis 12.15 Uhr drei Stunden lang Kritiken, Live-Interviews und Diskussionen zu literarischen Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren. Gemacht werden die Beiträge ausschliesslich von Studierenden und Doktorierenden der Universtität Zürich, gesendet wird aus dem Institutsgebäude an der Rämistrasse 69.
«UNI Sono» ist der hörbare Abschluss des Kolloquiums «Literaturkritik am Radio». Ein Semester lang haben sich zwanzig Studentinnen und Stundenten gemeinsam mit den beiden DRS-Literaturredaktoren Hardy Ruoss und Hans-Ulrich Probst und den beiden Germanistikprofessoren Barbara Naumann und Karl Wagner mit der medialen Literaturkritik auseinandergesetzt. Sie haben Ausgaben der DRS2-Literatursendung «52 beste Bücher» kritisiert, sich mit verschiedenen medialen Formen der Literaturvermittlung vertraut gemacht und selber radiotaugliche Texte verfasst. «Im Kolloquium wollten wir das Bewusstsein dafür schärfen, dass es nicht nur die akademischen Textsorten, sondern ganz unterschiedliche Möglichkeiten des Schreibens und Sprechens über Literatur gibt», sagt Karl Wagner.
Neben der Beschäftigung mit journalistischen Formen der Literaturkritik konnten die Studierenden bei einem Studiobesuch aber auch den Rundfunkprofis auf die Finger schauen – und sich so langsam mental auf ihre kommende Rolle als Radiomacherinnen und -macher vorbereiten. «Das Kollquium sollte keine Trockenübung im Bastelraum sein», meint Hans-Ulrich Probst, «es stand von Beginn weg fest, dass wir am Schluss gemeinsam eine Sendung produzieren werden.»
Die geplante Literatursendung ist in verschiedener Hinsicht ein Glücksfall: Den angehenden Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern gibt sie die eher seltene Gelegenheit, sich bereits während des Studiums mit der Berufspraxis auseinanderzusetzen. Die DRS-Literaturredaktoren wiederum erhoffen sich von der Zusammenarbeit mit den jungen Literaturbegeisterten neue Impulse: «Wir sind daran interessiert, neue Formen und Formate zu erproben, die auch ein junges Publikum erreichen», sagt Hans-Ulrich Probst, «denn Kulturradio soll ja nicht nur die 50- bis 60-Jährigen ansprechen – sie machen momentan, wie wir wissen, den Löwenanteil unserer Hörerinnen und Hörer aus.»
«UNI Sono» bietet auch für die Universität und insbesondere für die Literaturwissenschaft eine willkommene Bühne: «Uns ist es ein Anliegen, die Membran zwischen akademischer und nicht-akademischer Öffentlichkeit durchlässiger machen», sagt Barbara Naumann. «Die Sendung ist eine Chance, auch einem breiten Publikum zu zeigen, dass unsere Arbeit an der Universität überhaupt nicht trocken ist.»
Momentan laufen im Radiostudio die letzten Vorbereitungen für den Sendetag. Aus einer Leseliste von zwölf Neuerscheinungen haben die Kolloquiumsteilnehmenden zehn Bücher ausgewählt und rezensiert. Ein Teil dieser Kritiken, darunter auch der Text von Sibylle Saxer, wird nun im Studio vorproduziert. Aber nicht alles, was am 22. Juni auf DRS2 zu hören sein wird, kommt aus der Konserve: Drei Romane werden in Live-Interviews mit den Autoren – Michel Mettler, Christoph Geiser und Giuseppe Gracia – besprochen. Hinzu kommt eine Live-Diskussion, die sich um das historische und aktuelle Verhältnis von Radio und Öffentlichkeit dreht. Insgesamt eine anspruchsvolle Aufgabe für die Radioamateure: «Das ist ein Hochseilakt», meint Hans-Ulrich Probst. «Mit relativ wenig Vorbereitung drei Stunden live zu senden, ist kein Pappenstiel.»
Noch bleibt etwas Zeit, um der Sendung den letzten Schliff zu geben. Am 22. Juni gilt es dann aber Ernst: die Techniker werden in der Bibliothek im Institutsgebäude an der Rämistrasse 69 ein provisorisches Studio aufbauen und Moderator Andreas Müller-Crepon – die einzige DRS2-Stimme an diesem Morgen – wird vor dem Mikrofon Platz nehmen. Punkt 9 Uhr 03 wird er «UNI Sono» anmoderieren. Dann wird sich zeigen, ob das Radioexperiment gelingt. Was bereits jetzt feststeht: Allzu hart werden die Literaturkritikerinnen und –kritiker mit den neuen Romanen nicht ins Gericht gehen. «Verrisse gibt es kaum», sagt Germanistik-Studentin Katja Baigger, «jeder von uns bespricht einen Lieblingsautor, wichtig ist uns vor allem die Lust am Lesen.»