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Heute ist medizinisch vieles machbar, von dem man früher nur träumen konnte. Deshalb hat sich die Diskussion verschoben: hin zu den «Grenzen», die wir dem Fortschritt «aus moralischen Gründen setzen», führte Prof. Nikola Biller-Andorno, Leiterin des neu geschaffenen Lehrstuhls für Biomedizinische Ethik der Universität Zürich, am Symposium ins Thema ein. Auch Regierungsrätin und Gesundheitsdirektorin Verena Diener betonte, es sei heute nötig, gesamtgesellschaftlich «Grenzdiskussionen» zu führen, also Diskussionen um die Grenzen der Machbarkeit, der Finanzierbarkeit und der Ethik in der Medizin.
In den einführenden Referaten veranschaulichten verschiedene Spezialisten anhand von Beispielen die Brisanz ethischer Fragen in der Medizin: Was soll man tun, wenn ein Kind vier Monate zu früh zur Welt kommt und nur 560 Gramm auf die Waage bringt? «Vor zehn Jahren hätten wir es in Ruhe sterben lassen», meinte Professor Hans Ulrich Bucher, Direktor der Klinik für Neonatologie am USZ. Heute aber könne mit vielfältigen technischen Möglichkeiten versucht werden, das kleine Leben zu retten. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Frühgeborene überlebe und sich gesund entwickle, liegt im erwähnten Beispiel gemäss Bucher nur bei drei bis acht Prozent. Damit stünden Mediziner und Eltern vor einer schwierigen Entscheidung: eine für Kind und Eltern belastende Intensivbehandlung beginnen, diese allenfalls bei schweren Komplikationen abbrechen oder aber eine Palliativbehandlung wählen, die das Kind möglichst schmerzfrei sterben lasse?
Auch Ärztinnen und Ärzte sind bei solchen Fragen nicht immer einer Meinung, wie eine im Jahr 2000 publizierte europaweite Umfrage zeigte. Die Ergebnisse haben die Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie dazu veranlasst, für die Schweiz einheitliche Empfehlungen zu erarbeiten.
Klare juristische Regelungen können bei solch komplexen Fragestellungen die Mediziner entlasten, vermutete Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich. Anders sah es Professor Reto Stocker, Leiter der Chirurgischen Intensivmedizin am USZ. Er sei durchaus froh um eine rechtliche Grauzone, die es ermögliche, wie im Falle der Neonatologie eine Auseinandersetzung in Fachgemeinschaften - wie zum Beispiel der Gesellschaft für Neonatologie - zu führen.
Professor Hans Weder, Theologe und Rektor der Universität Zürich, gab zu bedenken, dass es im Leben kaum Verhaltensweisen gebe, bei denen man sich nicht in einem gewissen Sinne «schuldig» mache. Nötig sei deshalb eine «Kultur des Umgangs mit Schuld» – wobei auch jenen, die bei medizinischen Fragen Entscheidungen treffen müssen, zugestanden werde, dass sie schuldig werden können.
Eine der wichtigsten Fragen in ethischen Diskussionen lautet: Wer entscheidet? Eine Möglichkeit, solche Entscheidungen bereits im Voraus zu treffen, stellt die Patientenverfügung dar. Die Ethikerin Nikola Biller-Andorno plädierte dafür, die Patientenverfügung seitens der Medizin unterschiedlich zu gewichten, je nachdem wie viel Erfahrung jemand zum Zeitpunkt der Willensbekundung mit medizinischen Ausnahmesituationen bereits hat. Die Gefahr bestehe nämlich, dass der schriftlich festgehaltene Wille nicht dem Behandlungswunsch in der tatsächlichen Situation entspreche, weil man sich diese gar nicht realistisch habe vorstellen können.
Anderer Meinung war Verena Diener: «Wenn ich eine Verfügung unterschreibe, muss ich das Risiko tragen, dass mein Wille vielleicht in der realen Situation nicht mehr stimmt.» Gemäss Diener wäre es «ganz heikel», eine Patientenverfügung seitens der Medizin zu ignorieren.
Weniger Zeitdruck und mehr Mitsprache hat man bei schwerkranken Langzeitpatienten, die eine palliative Pflege erhalten. Das bedeutet, dass bei Todkranken alles darauf ausgerichtet wird, die Schmerzen zu lindern und möglichst viel Selbstständigkeit zu erhalten. Gerade bei Schwerkranken sei die Patientenverfügung nicht immer unproblematisch, sagte Professor Urs Martin Lütolf, Direktor der Klinik für Radioonkologie am USZ, an der Tagung; er habe die Erfahrung gemacht, dass die Betroffenen bisweilen Angst hätten, ihre Patientenverfügung könnte als Ausdruck von Misstrauen gegenüber den behandelnden Ärzten gedeutet werden.
Solchen Ängsten kann nur im Dialog zwischen Behandlungsteam und Patient begegnet werden. Ein Dialog, der vielleicht einfacher werde, meinte Hannes Steinebrunner, einer der Spitalseelsorger am USZ, wenn alle Beteiligten sich rechtzeitig die Frage stellten: Welchen Tod möchte ich eigentlich sterben?