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Geborgen schläft sich's am besten

An der gestrigen Tagung «Kind und Umwelt – ein Puzzlespiel» am Kinderspital Zürich erklärten Forscher und Kliniker der Abteilung Entwicklungspädiatrie anhand des «Zürcher Fit-Konzepts» wie sehr die individuelle Entwicklung von Kindern variieren kann.
Marita Fuchs

Der 10-jährige Luca kann abends nicht einschlafen und steht deshalb immer wieder auf. Das Kind fühlt sich unwohl, doch auch für die Eltern sind die Schlafstörungen ihres Kindes ein Problem. Der Pädiater Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich, spricht in diesem Fall von einem «Misfit», nämlich einer fehlenden Übereinstimmung zwischen den kindlichen Schlafbedürfnissen und den Erwartungen und Anforderungen der Eltern und der Umwelt. Die Bezeichnung «Fit» stammt aus dem Konzept «goodness of fit», das die amerikanischen Forscher Alexander Thomas und Stella Chess in den 80er-Jahren entwickelt haben. Es geht davon aus, dass sich ein Kind dann optimal entwickelt, wenn eine Übereinstimmung zwischen seinem Temperament und seiner Motivation einerseits und den Erwartungen, Anforderungen und Möglichkeiten der Umwelt andererseits besteht.

Remo Largo verdeutlichte die Vielfalt und Individualität der Entwicklungsprozesse von Kindern.

Remo Largo, der ehemalige Leiter der Abteilung Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals Zürich, hat diesen Grundgedanken weiterentwickelt und das «Zürcher Fit-Konzept» darauf aufgebaut. Nach diesem Modell wird das Kind im Zentrum verschiedener Einflüsse stehend betrachtet, wie Anerkennung, Betreuung und Geborgenheit sowie Erfolg und Leistung. Besteht eine Übereinstimmung zwischen den individuellen Bedürfnissen und Entwicklungseigenheiten des Kindes und seiner Umwelt, so spricht man von einem «Fit», sobald das Verhältnis gestört ist, von einem «Misfit».

Solide Datengrundlage

Remo Largo und sein Team haben Langzeitstudien mit Kindern ausgewertet, in denen seit den 50er Jahren das Wachstum und die Entwicklung von Kindern untersucht wurde. Weitere Studien wurden mit den Kindern der inzwischen erwachsenen ersten Untersuchungsgruppe durchgeführt. So bestand eine solide Datengrundlage, die über eine Generation hinausging. Das Forschungsinteresse richtete sich dabei auf die allgemeine Entwicklung von Kindern. Oskar Jenni konnte zum Beispiel nachweisen, dass verschiedene Aspekte des Schlafverhaltens von Kindern sehr unterschiedlich sein können. Wie bei Erwachsenen gibt es Lang- und Kurzschläfer. Wenn ein Kind zwischen 22 und 23 Uhr zu Bett geht, kann es drei bis 17 Minuten dauern, bis es einschläft. Für die Erziehungspersonen ist es wichtig, von dieser Spannbreite zu wissen und mit den Kindern adäquat umzugehen.

Oskar Jenni konnte zum Beispiel nachweisen, dass verschiedene Aspekte des Schlafverhaltens von Kindern sehr unterschiedlich sein können.

Geborgenheitsbedürfnis unterschiedlich ausgeprägt

Ist das Schlafverhalten gestört, so kann auch ein «Misfit» in der Betreuung eine Ursache dafür sein. Denn neben der biologischen Notwendigkeit, hat Schlaf auch immer etwas mit Geborgenheit zu tun. Das «Zürcher Fit-Konzept» lege besonderen Wert auf die Geborgenheit, weil sie Grundvoraussetzung sei für das kindliche Wohlbefinden und ein gutes Selbstwertgefühl, führte Remo Largo aus. Das Bindungsverhalten und damit auch die Nähe zwischen Kind, Eltern und anderen Bezugspersonen wandle sich ständig im Laufe der Entwicklung. Das Kind werde mit dem Älterwerden räumlich und zeitlich von seinen Bezugspersonen immer unabhängiger: Ein Kleinkind fühle sich geborgen, wenn eine Bezugsperson in Hör- Sichtweise ist, einem Schulkind reiche häufig die Gewissheit, jederzeit Zugang zu einer vertrauten Person zu haben. Jedoch gebe es innerhalb dieser Entwicklung eine grosse Bandbreite mit unterschiedlicher Ausprägung.

Das elterliche Bett favorisieren

Geborgenheit ist für den 10-jährigen Luca sehr wichtig. Im Rahmen der Beratungsgespräche, die Oskar Jenni mit der Mutter und dem Kind führte, stellte sich heraus, dass der 10-jährige Luca häufig im Bett seiner Eltern schläft. Luca suche die Geborgenheit und die elterliche Nähe, nur so könne er auch gut schlafen, führte Oskar Jenni aus. Das sei legitim, zumal sich häufig zeige, dass diejenigen Kinder, die nachts die Nähe der Bezugspersonen suchen auch tagsüber ein starkes Bedürfnis nach Geborgenheit und Zuwendung zeigen würden. Diese Kinder benötigen Nähe und es sei wichtig, dass Eltern das auch akzeptieren und entsprechende Bedingungen schaffen. Aus den Zürcher Longitudinalstudien geht hervor, dass 40 Prozent der 4-jährigen Kinder mindestens einmal pro Woche die ganze Nacht im Bett ihrer Eltern verbringen, 20 Prozent der Kinder schlafen drei und mehr Jahre im elterlichen Bett.

Nachteulen und frühe Lerchen

Das Schlafprotokoll von Luca habe gezeigt, so Jenni, dass er von seinen Schlafgewohnheiten her eine «Eule» sei. So bezeichnet man den Schlaftypus, der spät zu Bett geht und spät aufsteht. Die «Lerchen» dagegen stehen früh auf und gehen auch früh ins Bett. Luca selbst schläft zum Beispiel in den Ferien erst zwischen 23 Uhr und Mitternacht ein. Sobald Luca später ins Bett gehen durfte und morgens immer zu gleichen Zeit aufstand, hat sich seine Schlafstörung gelegt.

Jon Caflisch wertet die Daten der Zürcher Langzeitstudien aus, die seit 1954 detailliert das Wachstum und die Entwicklung des Menschen vom Baby bis zur Schwelle des Erwachsenenalters untersuchen.

Variabilität und Stabilität der Entwicklung

Die Zürcher Longitudinalstudien bieten den Forschern eine gesicherte Grundlage für Aussagen zu Entwicklungsprozessen. Jon Caflisch, Kinderarzt an der Abteilung Entwicklungspädiatrie, wertete die Daten unter einem anderen Gesichtspunkt aus. Er hat herausgefunden, dass in Wachstum, Motorik und Kognition bei 8- bis 16-jährigen Kindern sich trotz der Variabilität eine relativ grosse Stabilität nachweisen lasse. So zeigten einzelne Kinder Muster von Stärken und Schwächen, wie zum Beispiel das visuell-räumliche Vorstellungsvermögen, das sie bis zum Erwachsenenalter beibehalten würden. Es gebe aber auch Bereiche in der kindlichen Entwicklung, die noch nicht erfasst wären. Caflisch berichtete von Annina, einem Mädchen, das trotz grosser Schwierigkeiten in der Schule immer gern zu Schule gegangen ist und sich damit in einer «Fit-Situation» befand. Ihre Stärken muss sie aus einem Bereich bezogen haben, den der Forscher nicht benennen konnte.