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Was des Menschen nächste, lebende Verwandte tun und lassen, interessiert den Homo sapiens seit langem. Zum einen zur Rekonstruktion der menschlichen Evolution, aber auch «für unser ureigenstes Selbstverständnis», wie Tagungsinitiator und Hans-Kummer-Schüler Gustl Anzenberger vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich erklärt. War man früher noch weitgehend auf beschreibende Beobachtung und Interpretation angewiesen, so haben neuere Methoden wie die Genetik oder hormonelle Analysemöglichkeiten die Primatenforschung regelrecht revolutioniert.
Die enorme Verfeinerung der Labor-Methoden erlaube heutzutage, aus Urin- und Kotproben hormonelle Daten von völlig unbehelligt lebenden Tieren zu gewinnen, erklärt Anzenberger. Vor allem die Fortpflanzung und die Reaktion auf Stressereignisse können dadurch genauer erforscht werden. «Man weiss heute zum Beispiel präzise, an welchen wenigen Tagen ein Weibchen konzeptionsfähig ist, und kann der Frage nachgehen, weshalb es trotzdem über eine längere Zeitspanne mit verschiedenen Männchen kopuliert, und so mögliche Verhaltensstrategien aufdecken.» Oder die Primatologen hätten herausgefunden, wie Primaten auf den «Schock», dass ein Gruppenmitglied einem Räuber zum Opfer gefallen ist, physiologisch reagieren und damit «fertig werden». Sozioendokrinologie nennt man diesen Zweig der Primatologie, der den Zusammenhang zwischen dem hormonellen Zustand und dem Verhalten von Primaten untersucht.
Ein weiterer, wichtiger Zweig in der Primatologie ist die Erforschung von Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb von Affengruppen mittels genetischer Analysen. «Aus Kot-, Haar- und Gewebeproben», so Gustl Anzenberger, «lassen sich zuverlässig genetische Profile auf individueller Basis erstellen. Damit können Verwandtschaftsbeziehungen bei Arten aufgedeckt werden, die in relativ grossen gemischtgeschlechtlichen promisken Verbänden leben, wie Makaken, Paviane und Schimpansen. Es lassen sich nun Vaterschaften zuverlässig zuordnen.» Dank der Fortschritte in der Genetik könnten heute Fragen beantwortet werden, von denen frühere Primaten-Forscher nur träumen konnten, sagt Anzenberger.
Der alten Frage, wie sich der Affe vom Menschen unterscheide, dieser Frage widmet sich der wichtigste neuere Zweig in der Primatenforschung: die Kognitionsforschung. Früher wurden die Tiere dazu in kontrollierte Versuchsanordnungen versetzt, die weitgehend unnatürlich waren, so dass sich die Resultate schlecht verallgemeinern liessen. Oder man beschrieb Beobachtungen aus dem Freiland, die jedoch nur selten eindeutig interpretiert werden konnten und im Anekdotischen verhaftet blieben. «Durch die Integration verschiedener methodischer Ansätze ist man heute in der Lage, kognitive Fähigkeiten bei Primaten experimentell kontrolliert, aber gleichzeitig sozial und ökologisch relevant zu untersuchen», führt Anzenberger aus.
Im Vordergrund der Primatenforschung stehen derzeit kognitive Fähigkeiten aus dem sozialen Bereich: Wie lernen Affen voneinander, und welches sind Ursachen und Konsequenzen für die Entstehung von Kultur? Was wissen Affen über die wechselseitigen Beziehungen anderer Individuen ihrer Gruppe? Können sich Affen in ein anderes Individuum hinein versetzen und seine Perspektive übernehmen? «Das besondere Interesse an sozio-kognitiven Fähigkeiten ist sicher darin begründet, dass hier die letzten grundsätzlichen Unterschiede zwischen Menschen und anderen Primaten erwartet werden», erklärt Anzenberger.
«Trends in Primatology» wurde zu Ehren des emeritierten Primatologen und Verhaltensforschers Prof. Hans Kummer veranstaltet. Hans Kummer gilt als einer der führenden Verhaltenswissenschaftler der Schweiz, der auch international eine ausgesprochen hohe Reputation geniesst. Er war von 1969 bis 1995 Professor für Zoologie und von 1992 bis 1994 Prodekan an der Universität Zürich, sowie Forschungsrat des Schweizerischen Nationalfonds (1984–88). Unter seinen wissenschaftlichen Auszeichnungen ist der Marcel-Benoist-Preis, der ihm 1981 verliehen wurde, hervorzuheben.
Für das Symposium ausschlaggebend war Hans Kummers Rolle für die Entwicklung der Primatologie, deren Fachorganisation (International Primatological Society) er auch als Präsident vorstand (1972–76). Kummer hat sich nach seiner Diplomarbeit über Mantelpaviane im Zoo Zürich für seine Dissertation bewusst einem Thema der Entwicklungsbiologie zugewandt. Der Mantelpavian blieb aber zeitlebens sein «Haustier».
Die experimentelle Arbeit im Labor, wie er sie für seine Dissertation betrieb, blieb für Kummer auch als Verhaltensforscher und Primatologe zentral. Dadurch verhalf er der kognitiven Primatologie nach deren «anekdotischem Stillstand» in den neunziger Jahren zu neuem Aufschwung.
Zusammen mit den – mittlerweile emeritierten und am Symposium ebenfalls anwesenden – Professoren William Mason (Department of Psychology und Primate Research Centre, University of California, Davis, USA) und Emil Menzel (Department of Psychology, State University of New York, Stony Brook, USA) legte Hans Kummer in den sechziger Jahren am Delta Regional Primate Center in Covington, USA, den Grundstein für die moderne, naturwissenschaftliche Ausrichtung der Primatologie.
Mason war mit der Erste, der in der Primatologie Verhaltensdaten mit parallel und nicht-invasiv erfassten physiologischen Parametern verknüpfte. Menzel darf als eigentlicher Begründer der kognitiven Primatologie angesehen werden. Und Kummer war bahnbrechend mit seinem integrativen Ansatz, Experimente zur Sozialstruktur sowohl im Freiland als auch in Gefangenschaft durchzuführen. «Allen Dreien war gemeinsam, dass sie praktisch ausnahmslos experimentell arbeiteten und dieses Werkzeug fest in der Primatologie verankerten», führt Anzenberger aus. Dies zu einer Zeit, als die Arbeiten auf diesem Gebiet üblicherweise rein beschreibend waren.
Das Symposium am Anthropologischen Institut der Universität Zürich, das die Kummer-Schüler Gustl Anzenberger und Barbara Falk organisiert haben, war ein voller Erfolg. Neben den 24 Rednerinnen und Rednern besuchten 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus acht Nationen die Tagung und zeigten damit, wie bedeutend Hans Kummers Verdienste in der Primatologie waren. «Nach seiner Emeritierung 1995 war die primatologische Forschung in der Schweiz für längere Zeit kein Thema mehr», findet Anzenberger. Erst als 2004 mit der Berufung von Prof. Dr. Carel van Schaik zum Direktor des Anthropologischen Instituts ein international führender Primatologe nach Zürich geholt wurde, kam neue Bewegung in die hiesige Forschung. «Es ist die erklärte Absicht von Carel van Schaik, das Zürcher Institut in wenigen Jahren zu einem Kompetenzzentrum für Primatologie und physische Anthropologie zu machen», berichtet Anzenberger, «das 'Hans Kummer Symposium' hat hierzu international gesehen einen wichtigen Beitrag geleistet.»