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Herr Largo, Sie werden dieses Jahr pensioniert. Über dreissig Jahre haben Sie die Abteilung Wachstum und Entwicklung am Kinderspital geleitet und über kindliche Entwicklung geforscht. Welche gravierenden Veränderungen haben Sie in dieser Zeit beobachtet?
Remo Largo: Es hat eine dramatische Änderung des Erziehungsverhaltens stattgefunden. Während früher mehrheitlich eine autoritäre Erziehung das Verhältnis zu Kindern prägte, und die Erwachsenen Gehorsam ohne irgendeine Legitimation einforderten, reicht das heute nicht mehr aus.
Die Kinder richten sich zwar immer noch nach Autoritäten aus, aber sie akzeptieren nur natürliche Autoritäten. Das sind Personen, die mit ihrer Kompetenz überzeugen, das gilt vor allem für Jugendliche. Der Erwachsene muss glaubwürdig sein und das ist eine hohe Anforderung.
Sind Erwachsene nicht auch oft in ihrer Erziehung verunsichert durch die Ansprüche, die an sie gestellt werden?
Die Anforderung steigt, weil die Statusautorität verloren gegangen ist. Natürliche Autorität gründet auf Kompetenz und Vertrauen. Die Erwachsenen müssen eine Beziehung zum Kind eingehen. Es reicht nicht, einfach zu sagen, du machst das und tust jenes. Das funktioniert nur, wenn eine solide Beziehung da ist. Daran hapert es jedoch oft. Gerade die Supernanny-Serien im Fernsehen, in denen Erzieherinnen in Reality-Shows Erziehungsnachhilfe geben, zeugen diesbezüglich von einer grossen Unsicherheit. Gehorsamkeit, ohne Autorität, ist nur möglich, wenn die Beziehung in Ordnung ist.
Sie haben sich in Ihrer Forschung auf Langzeitstudien der kindlichen Entwicklung und auf Frühgeborene konzentriert, zwei recht unterschiedliche Gebiete. Wie kam es dazu?
Als ich 1974 mit meiner Arbeit begann, war gerade eine Langzeitstudie abgeschlossen worden, die von den 50er- bis in die 70er-Jahre das Wachstum von Kindern untersucht hatte. Damals beschloss ich, eine weitere Studie mit den Kindern der jetzt schon erwachsenen ersten Untersuchungsgruppe durchzuführen. So hatten wir eine solide Datengrundlage, die über eine Generation hinausging. Unser Forschungsinteresse richtete sich dabei auf die allgemeine Entwicklung von Kindern. Wie methodisch vorzugehen sei, war damals noch offen. Das theoretische Rüstzeug für meine Untersuchungen holte ich mir in Amerika, Holland und England.
Den zweiten Schwerpunkt meiner Arbeit bildete die Untersuchung von früh geborenen Kindern. Ende 60er- und Anfang der 70er-Jahre bekam die Neonatologie durch den technischen Fortschritt einen starken Schub. Unsere Untersuchungen sollten klären, welche Entwicklungsrisiken Frühgeborene haben.
Welche wichtigsten Erkenntnisse konnten Sie in diesen Bereichen gewinnen?
In Bezug auf die früh geborenen Kinder konnten wir nachweisen, dass diejenigen, die nach der dreissigsten Schwangerschaftswoche geboren wurden, sich normal entwickeln. Bei einer Geburt vor der dreissigsten Woche steigt jedoch das Risiko einer Entwicklungsstörung exponentiell an. Ein Ergebnis, dass die ethische Fragestellung nach den Möglichkeiten der Extremmedizin aufwirft.
In der anderen Langzeitstudie zur kindlichen Entwicklung sind wir der Frage nach dem Einfluss und dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt nachgegangen. Die Antworten darauf waren komplex. Es gibt Bereiche, in denen die Anlage in hohem Masse die Entwicklung bestimmt, beispielsweise bei der Körpergrösse oder beim Schlafbedarf. In anderen Bereichen hängt die Entwicklung entscheidend von den Erfahrungen ab, die das Kind macht, beispielsweise im Hinblick auf Sprache oder Sozialverhalten. Allgemein lässt sich sagen: Die Anlage gibt das Optimum einer möglichen Entwicklung vor.
Sie haben neben Ihrer wissenschaftlichen Arbeit zwei Long- und Beststeller geschrieben. Wie erklären Sie sich den grossen Erfolg?
Ich habe schon in den 80er-Jahren überlegt, ob ich die Bücher schreiben soll. Warum den vielen Erziehungsbüchern noch eins hinzufügen? Die wenigsten Bücher wiesen jedoch auf die Vielfalt der Entwicklung hin. Aus meiner wissenschaftlichen Arbeit wusste ich ja, wie breit die Entwicklungsspanne ist. Nehmen Sie zum Beispiel die Erstklässler, deren Variabilität in der Entwicklung geht bis zu zwei Jahren. Ich wollte die Eltern von ihren Normvorstellungen entlasten.
Planen Sie ein weiteres Buch?
Ja. Ich möchte in diesem Buch das Thema Variabilität und Individualität über alle Lebensalter bearbeiten. Dabei möchte ich auch gesellschaftliche Probleme aufgreifen und zur Bildungsdebatte Stellung beziehen. Mir ist beispielsweise ein Anliegen, dass die Schule die Kinder und Jugendlichen dazu befähigt, das Lernen zu lernen, Eigenverantwortung zu übernehmen. Dazu muss selbständige Arbeiten und soziale Kompetenz vermittelt werden. Nur so können wir auch in Zukunft bestehen.