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Für Seine Heiligkeit müsse die Ausstellung ein magischer Spiegel sein, erklärte Ausstellungskurator PD Dr. Martin Brauen in seiner Vernissagenrede. Denn sie lasse nicht nur Bilder aus den Jugendjahren des 14. Dalai Lama erscheinen, sondern auch sämtliche seiner Vorgänger auf dem Thron. Tatsächlich bietet die am Mittwoch im Beisein des 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso eröffnete Ausstellung einen bisher einmaligen Überblick über die 600-jährige Institution der Dalai Lamas. Dafür scheuten Brauen und sein Team keine Mühen. Es gelang ihnen, eine Vielzahl hochkarätiger Kunstwerke aus international renommierten Sammlungen nach Zürich zu holen. Der Gang durch die Ausstellung gleicht so dem Blick in eine üppig gefüllte Schatzkammer. Prächtige Monumentalfiguren wie der elfgesichtige Bodhisattva Avalokiteshvara aus Rotterdam wechseln sich ab mit unglaublich fein gearbeiteten Rollbildern und Kleinplastiken, wobei jedem der Dalai Lamas eine Koje gewidmet ist.
Mit dem nicht ganz einfachen Konzept der Inkarnation und der Figur des Bodhisattva Avalokiteshvara («Bodhisattva des Mitgefühls») macht der Rundgang in einem ersten Kapitel vertraut. Es zeigt einige unterschiedliche Erscheinungsformen dieses erleuchteten Wesens, das sich immer wieder als Dalai Lama inkarniert, um das Leiden auf Erden zu lindern. Es folgen die Dalai Lamas vom 1. bis zum 14., wobei der «Grosse Fünfte» aufgrund seiner religiös-politischen Bedeutung besonders viel Platz einnimmt. Ihm gelang es, die Linie der Dalai Lamas als Machthaber über Tibet zu festigen – und er war einer der wenigen Amtsträger, die das Reich effektiv regierten. Denn seit dem 16. Jahrhundert war die Herrschaft der Dalai Lamas eine von fremden Gnaden. Sogar der Titel «Dalai Lama» geht auf ausländische Mächte zurück: Es war ein mongolischer Kahn, der ihn erstmals verlieh. Im 19. Jahrhundert machten dann die Chinesen ihren Einfluss geltend. Der Anspruch auf das tibetische Königreich, dem China seit 1949 mit Gewalt Nachdruck verleiht, ist somit kein rezentes Phänomen.
Eine Lücke klafft schliesslich von der 10. bis 12. Inkarnation: Allesamt verstarben sie in jungen Jahren – auf mysteriöse Weise. Manche Quellen machen die Chinesen dafür verantwortlich, andere sahen die tibetische Aristokratie oder verräterische Klosterbeamte am Werk. Ein spezielles Kapitel widmen die Ausstellungsmacher den Schutzgottheiten, die vor Unglück bewahren sollen. An ihrer Wirkung wird niemand zweifeln wollen: Es sind allesamt schauerliche Ungeheuer, die sich in einem Meer aus Blut mit den Häuten besiegter Dämonen schmücken. Voller innerer Harmonie hingegen die Dalai Lamas. Körperhaltung und Handgesten folgen einem vorgegebenen Kanon. Nicht Individualität zählte, sondern ihre Funktion als Verkörperungen einer überpersönlichen Institution. Wie sich der Darstellungsstil im Kontakt mit dem Westen veränderte, führt der 14. Dalai Lama vor Augen. Die Fotokamera hat das schematisierte Konterfei allmählich durch das echte, individuelle Bildnis ersetzt.
Die «Vermenschlichung» des Dalai Lama findet schliesslich in der zweiten Ausstellung ihren Höhepunkt, der grossartigen Fotostudie des Winterthurer Fotografen Manuel Bauer. Sie zeigt das amtierende Oberhaupt der tibetischen Buddhisten von seiner privaten Seite – allerdings ohne dabei einen andern als den bereits bekannten Dalai Lama zutage zu fördern. Bauer betont denn auch, in den vier Jahren, in denen er Seine Heiligkeit um die ganze Welt und bis hinter die verschlossenen Türen des Meditationsraums begleitete, einer aussergewöhnlich authentischen Person nahe gekommen zu sein. In grossen Kapiteln zeigt seine Schwarzweiss-Reportage Stationen im täglichen Wirken des Dalai Lama: sein Einsatz für den interreligiösen Dialog, seine magische Wirkung auf Gläubige in indischen Exil, seine Auftritte in zum Bersten gefüllten Sportarenen und Fernsehstudios im Westen. Seit 1990 macht es sich Bauer zur Aufgabe, das Schicksal des tibetischen Volks zu dokumentieren. Seinem Thema will der Fotograf auch in Zukunft treu bleiben. Nicht die Ausstellung, nicht das Fotobuch seien das Ziel, sagt er, sondern der Aufbau eines umfassenden Bildarchivs für die Nachwelt.
So werfen beide Ausstellungen aus ganz unterschiedlichen Warten Licht auf dasselbe Phänomen – die eine mit traditionellen tibetischen Darstellungen, die andere in der Tradition der Fotoreportage. Erleuchtung wird man sich davon nicht erhoffen dürfen, ein Mehr an Wissen hingegen schon.