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«Mir ging es wie vielen Deutschen, die in die Schweiz kommen», sagt Reinhard Saller in seinem gemütlichen Bayerisch, «man fühlt sich mit riesigen Ansprüchen konfrontiert und fragt sich, ob man ihnen in fachlicher, zeitlicher und aufgabenmässiger Hinsicht überhaupt gerecht werden könne.» In der Naturheilkunde präsentierte sich die Situation besonders diffizil: Die Zürcher Regierung hatte diesen ersten naturheilkundlichen Lehrstuhl an einer Schweizer Hochschule 1990 nur auf Druck des Volkes bewilligt. Fünfzig Bewerbungen gingen ein.
Auf den deutschen Internisten mit Spezialisierung auf Pflanzenheilkunde hatte die Fakultät nicht gerade gewartet. «Am Anfang», erinnert sich der heute 56jährige Saller, «wurde ich argwöhnisch beobachtet. Aber es gab auch wohlwollende Neugierde.» Seine Habilitation galt pharmakologischen und naturheilkundlichen Behandlungsansätzen beim Zytostatika-induzierten Erbrechen, einem klassischen Mischthema zwischen Schul- und Komplementärmedizin - das machte es Saller leichter, die Sprache seiner schulmedizinischen Kollegen zu sprechen.
Doch die Aufgabe war noch heikel genug, denn zur Ausstattung des Lehrstuhls gehören gerade mal anderthalb Stellen. Und das in der Komplementärmedizin, die sich in Hunderte von weit auseinander liegende Bereiche auffächert. Mit solchen Miniressourcen also hatte Saller sein Fach an der Universität zu institutionalisieren, er hat Forschung zu betreiben, Studierende zu betreuen und Patienten zu versorgen. Das Schwierige sei, immer wieder, genug Drittmittel zusammen zu kriegen, denn niemand lasse sich auf eine Stelle ein, die nur für ein halbes Jahr gesichert sei. Inzwischen kann Saller sieben Teilzeitmitarbeitende finanzieren, muss bei der Geldsuche aber immer darauf achten, nicht von den Naturheilkundefirmen abhängig zu werden.
Reinhard Sallers Forschungsschwerpunkt sind Heilpflanzen. Beim Johanneskraut – einer Pflanze gegen leichte und mittelschwere Depressionen – geht es zum Beispiel darum, die unterschiedliche Wirkungsweise von Extrakten aus Frischpflanzen, Trockenpflanzen, aber auch in Tee- oder in alkoholischer Form zu erforschen. Von Verhältnissen wie in den USA, wo im Bereich Naturheilkunde momentan eine gewaltige Forschungswelle laufe, kann Saller indes nur träumen. «Dort», sagt er, «hat man genug Mittel, um formal exzellente Studien zu machen, aber es kommt wenig dabei heraus, weil, wie im Fall der Echinacea, die verwendete Dosierung klar zu tief war.»
Inzwischen fühlt sich der Bayer in Zürich «deutlich stärker in eine Art Mainstream-Medizin eingebunden» als noch vor zehn Jahren. Den Studierenden allerdings wird das Interesse an der Naturheilkunde nicht gerade leicht gemacht, denn Sallers Vorlesungen finden immer noch zu Randzeiten statt. «Um die spezifisch naturheilkundliche Sichtweise von Gesundheit und Krankheit besser in meine Tätigkeit einzubringen, bräuchten wir zwei bis drei verlässlich finanzierte Stellen mehr.» Saller fürchtet indes, dass die naturheilkundliche Forschung in Zukunft noch stärker hinter den Life sciences zurückzustehen habe. «Nicht zum Nutzen der Patienten!»
Im Spitalalltag, zum Beispiel bei der Beratung von Onkologiepatienten, kann Saller seine naturheilkundliche Sichtweise einbringen. Die Betreuung von Patienten ist ihm «eine gewisse Verpflichtung». Er hat nicht vergessen, dass es «das Volk»war, das den Lehrstuhl gewünscht hatte. Saller hat lange Wartelisten. Viele Patienten kommen mit Stapeln von Internetausdrucken und wollen wissen, welche Heilsversprechen denn überhaupt etwas taugen. Und sie sind dankbar, nicht nur als Kranke wahrgenommen zuwerden, sondern auch als Menschen mit vielen gesunden Anteilen, die es zu stärken gilt. «Wenn die Körperausscheidung wieder funktioniert», stellt Saller fest, «kann das auch Heilungsenergien mobilisieren.»
In seinen Sprechstunden bekommt der Phyto-Spezialist andere Dinge zu hören als seine schulmedizinischen Kollegen, auch Vertrauliches, über das die Leute sonst mit niemandem reden können. Oft wird er auch mit der Frage des geistigen Heilens konfrontiert. «Wir haben Dissertationen in diesem Bereich gemacht. Man muss», sagt Saller, «davon ausgehen, dass ein grösserer Teil der tumorkranken Patienten solche Wege geht.» Dieses Unkonventionelle, Grenzüberschreitende, zu dem auch der Kontakt zu Schweizer Heilerpersönlichkeiten gehört, fasziniert Saller sichtlich.
Welches sind seine wichtigsten Erkenntnisse aus den zehn Zürcher Jahren? «Zum Einen: dass es möglich und nötig ist, ein so schillerndes und trotzdem fundiertes Gebiet wie die Naturheilkunde in der modernen Medizin zu vertreten. Und zum Andern: Man muss von der ersten Sekunde an für eine stärkere Ausstattung solcher Stellen kämpfen.» Und da, sagt Saller, habe er sich wohl zu bescheiden gegeben.
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