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Unipublic: Herr Hell, das Interesse der modernen Psychiatrie richtet sich immer exklusiver auf neurophysiologische Vorgänge. Was halten Sie von dieser Entwicklung?
Daniel Hell: Neurobiologisch orientierte Ansätze bilden tatsächlich den Mainstream psychiatrischer Praxis. Aber das ist keine neue Erscheinung. Schon Eugen Bleuler, Zeitgenosse Sigmund Freuds, hat sich für diesen Weg entschieden. Es ist gewiss nicht nötig, für diese Praxis noch die Werbetrommel zu rühren. Mir geht es allerdings weniger darum, Kritik an neurobiologischen Methoden zu üben; vielmehr möchte ich in meinem Referat sowohl auf die Stärken als auch auf die Grenzen dieser Methoden hinweisen. Behandlungen mit biologischen Methoden, mit Medikamenten oder mit Licht sind durchaus erfolgreich. Zu bedenken ist allerdings, dass solche Behandlungen auf einer reinen Aussenperspektive auf den Patienten beruhen. Wir beobachten, messen und bewerten seine Hirnaktivität. Doch es gibt nicht nur die biologische Mechanismen, es gibt nicht nur Hirnströme. Die Innenperspektive, das eigene Erleben des Patienten, wird bei einem rein neurobiologischen Zugang zu wenig berücksichtigt.
Inwiefern kann eine Behandlung verbessert werden, wenn auch die Innenperspektive des Patienten wahrgenommen wird?
Eine Reduktion auf die Aussenperspektive wird psychisch kranken Menschen nicht gerecht. Wir haben es in der Psychiatrie oft mit Menschen zu tun, die Identitätsprobleme haben. Die Förderung einer Vorstellung vom eigenen Selbst setzt einen Zugang zum eigenen Erleben voraus. In Gesprächs-, Leib- oder auch gestalterischen Therapien sehe ich Möglichkeiten, solche Zugänge zu ermöglichen und damit das Selbstgefühl zu stärken.
Was ist in Ihren Augen stärker zu betonen, die subjektive Innen- oder die objektive Aussensicht?
Wir brauchen beide Perspektiven. Ich plädiere für eine ganzheitlicheBehandlung, die auf neurobiologischen Methoden beruht, gleichzeitig aber auch das subjektive Erleben der Patienten stärkt. Wobei zu sagen ist, dass ein Patient in der Psychiatrie meist aufgrund subjektiver Selbstaussagen klassifiziert und dementsprechend behandelt wird.
Der Titel Ihres Referates lautet: «Ist Leiden ein Zeichen von Krankheit?» Wollen Sie damit andeuten, dass Krankheit und Leiden nicht zwingend zusammengehören müssen?
Man sollte in der Diagnostik stets bedenken, dass Definitionen von «krank» und «gesund» keine unabänderlichen Konstanten sind, sondern stark von gesellschaftlichen Wertsetzungen abhängen. So wird seelisches Leiden heute grundsätzlich stärker pathologisiert als früher. In einer dynamischen, von Leistungsdruck und Vergnügungsansprüchen geprägten Gesellschaft ist die Bereitschaft, Leid zu ertragen, stark gesunken. Leid wird als Mangel empfunden, als Fehlen von Wohlergehen. Was früher blosses Erleiden von seelischem Schmerz war, gilt heute schon als psychische Krankheit. Schüchternheit zum Beispiel wird zur sozialen Phobie. Umgekehrt werden heute Daseinsformen, die nicht primär mit Leiden verbunden sind, zu Recht entpathologisiert - wie zum Beispiel die Homosexualität, die bis in die Siebzigerjahre hinein als Krankheit galt.
Trotzdem sind Sie als Arzt in ihren Diagnosen auf diese gesellschaftlich bestimmten Klassifizierungen angewiesen.
Natürlich. Und gerade deshalb ist es so wichtig, die Begriffe und Methoden einer an der Neurobiologie orientierten Psychiatrie zu überdenken und durch hermeneutische Ansätze zu erweitern.