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Wenn Kinder oder Eltern zuschlagen

Gewalt in der Familie - da denkt man meist zuerst an Eltern, die ihre Kinder schlagen. Beratungsstellen sind aber immer mehr auch mit Eltern konfrontiert, die von ihren Kindern geschlagen werden. Das Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich lud zu einem Podiumsgespräch.
Adrian Ritter

Podium (von links): Dr. Beat Mohler, leitender Arzt am ZKJP; Reto Heimgartner, Leiter Krisenintervention für Jugendliche Riesbach; Andreas Pantli, Familienberater beim Elternnotruf; Moderator Prof. Hans-Christoph Steinhausen, Ärztlicher Direktor des ZKJP; Dr. Beat Kaufmann, Psychologe Jugendberatung der Stadt Zürich; Vreni Diserens, Präsidentin VASK Kanton Zürich (Vereinigung der Angehörigen von Schizophrenie- und Psychisch-Kranken)

Der Tag der offenen Tür am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ZKJP) am 22. November sollte auch der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen der Familien- und Jugendarbeit dienen. Moderator Prof. Hans-Christoph Steinhausen, ärztlicher Direktor des ZKJP, durfte zum Podiumsgespräch «Aggression in der Familie» Vertreter verschiedener Beratungs- und Therapiestellen begrüssen.

Fachleute begegnen der Aggression in der Praxis in verschiedenen Formen: Gewalt der Eltern gegenüber den Kindern, Gewalt zwischen Kindern oder traumatisierte Kinder, die Gewalt zwischen den Eltern wahrgenommen haben.

Der «Elternnotruf» beispielsweise war ursprünglich vor allem für Eltern gedacht, die sich überfordert fühlen und in Gefahr sind, gewalttätig zu werden oder es schon geworden sind und aus schlechtem Gewissen anrufen. Andreas Pantli, Familienberater beim Elternnotruf: «In den letzten Jahren ist aber auch die umgekehrte Form wichtig geworden: Eltern, die von ihren Kindern genötigt, bedroht oder geschlagen werden.»

Neurophysiologische Forschung am Tag der offenen Tür am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ZKJP): Wie sieht die Hirnaktivität aus - zum Beispiel beim Lernen oder bei Hyperaktivität?

Die eigenen Kinder anzeigen?

Für die Eltern sei es in dieser Situation oft schwierig, Hilfe zu suchen. Sie schämen sich, haben Angst vor Vorwürfen und wollen dem eigenen Kind mit einer Anzeige nicht noch mehr Schwierigkeiten bereiten. Der Elternnotruf will vor allem ermutigen, darüber zu sprechen. Manchmal sei auch eine Anzeige nötig - «weil die Jugendlichen ihre Eltern erst dann ernst nehmen», so Pantli.

Dr. Beat Kaufmann, Psychologe bei der Jugendberatung der Stadt Zürich: «Schlimm ist es für die Eltern auch, wenn sie nicht nachvollziehen können, woher diese Aggression kommt und sich fragen: Warum gerade mein Kind?» Warum kommt es überhaupt zu dieser Gewalt, war denn auch eine Frage aus dem Publikum: Macht das die Persönlichkeit oder das Umfeld aus?

Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, war man sich auf dem Podium einig. Beat Kaufmann sprach von einer «Verschärfung der Emotionalität» im Jugendalter. Gemäss Dr. Beat Mohler, leitender Arzt am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, gilt es allerdings in gewissen Fällen auch abzuklären, ob eine psychische Erkrankung des Kindes oder Jugendlichen vorliege. Solche Abklärungen werden unter anderem am ZKJP gemacht.

Nicht nur beim Malen am Besuchstag können Kinder und Jugendliche kreativ werden: Angebote wie Ergotherapie und Bewegungstherapie gehören zum Alltag im ZKJP.

Vom Dreijährigen terrorisiert

Manchmal sind aber auch einfach die Eltern überfordert. Andreas Prantli stellt eine allgemeine Verunsicherung in Erziehungsfragen fest: Wie autoritär soll oder muss man sein? Beat Mohler betonte in diesem Zusammenhang das Phänomen der Ohnmacht: «Wer sich ohnmächtig fühlt, sieht keine Handlungsmöglichkeiten. Beim Thema Gewalt gilt es daher, solche Handlungsoptionen zu schaffen.»

Beim Elternnotruf will man die Eltern auch ermutigen, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und Grenzen zu setzen. Andreas Pantli: «Das muss schon früh beginnen, wenn man bedenkt, dass wir Anrufe von Eltern bekommen, die von ihrem dreijährigen Kind terrorisiert oder vom vierjährigen Kind geschlagen werden.» Helfen könnten hier auch Elternbildungsprogramme in den Gemeinden. Eltern sein ist der einzige Beruf, den man nicht lernen muss, kritisierte denn auch jemand im Publikum.

Bis zu einem Jahr können Kinder und Jugendliche zur Abklärung im Zentrum bleiben. Entsprechend werden auch Kindergarten und Schulunterricht angeboten.

Loslassen, sobald man sie hat

Der Handlungsspielraum für Jugendliche müsse grundsätzlich vergrössert werden, forderte Reto Heimgartner, Leiter der Krisenintervention für Jugendliche Riesbach. Man könne von den Jugendlichen nicht plötzlich Eigenverantwortung verlangen, wenn die Welt der Erwachsenen ihnen diese zuvor nie gegeben habe. Die Ablösung vom Elternhaus beginne heutzutage schon mit 12 oder 13 Jahren. Von Seiten der Eltern müsse sie aber noch früher einsetzen: «Man kann Kinder nicht erst mit 13 Jahren loszulassen beginnen. Kaum hat man sie, muss man sie schon wieder loslassen.»

Konstruktive Aggression?

Moderator Hans-Christoph Steinhausen plädierte in Abgrenzung zu seinen Vorrednern dafür, nicht zwischen konstruktiver und destruktiver Aggression zu unterscheiden, sondern den Begriff in seinem ursprünglichen Sinn zu verwenden. «Aus klinischer Sicht geht es um schädigende, andere Personen beeinträchtigende Verhaltensweisen. Positive Eigenschaften wie Selbstbehauptung und Aktivität sind etwas anderes.»

Aggression und Gewalt sind auch am Beratungstelefon der Vereinigung der Angehörigen von Schizophrenie- und Psychisch-Kranken (VASK) ein wichtiges Thema. Vreni Diserens, Präsidentin der VASK Kanton Zürich, wollte allerdings abschliessendauch darauf hinweisen, dass beim Thema Aggression von einem kleinen Prozentsatz der Jugendlichen die Rede sei. Auch Hans-Christoph Steinhausen ergänzte, dass beispielsweise Angststörungen bei Jugendlichen viel häufiger auftreten als gewalttätiges Verhalten.