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Herr Steinhausen, wohin geht der Forschungstrend innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie?
Hans-Christoph Steinhausen: Hin zum Hirn. Während man in den vergangenen Jahrzehnten Störungen vorrangig auf die soziale Umwelt zurückführte, erleben wir gegenwärtig eine Renaissance der hirnbezogenen Forschung. Sie bildet folglich auch einen Themenschwerpunkt am diesjährigen Symposium. Wir bekommen heute wieder sehr viele Impulse aus den Neurowissenschaften.
Sind sie mit dieser Entwicklung zufrieden?
Ich bin selbst an ihr beteiligt. Zwei meiner Mitarbeiter am KJPD werden in ihren Referaten neue Ergebnisse in diesem Bereich vorstellen. Daniel Brandeis wird zeigen, wie das Hirn elektrophysiologisch funktioniert und Michael von Aster wird seine Forschungen über Rechenstörungen präsentieren. Aber natürlich wäre es falsch, psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen nur auf das Hirn zurückzuführen.
Nach welchen Kriterien wurden die übrigen, auswärtigen Referenten ausgesucht?
Das Symposium soll einen Überblick über den internationalen «state of the art» in unserem Fach bieten. Freilich ist ein zweitägiger Anlass zu kurz, um wirklich repräsentativ sein zu können. So ist das Programm eben auch von meinen persönlichen Vorlieben geprägt. Es wird neben dem erwähnten Schwerpunkt beispielsweise Vorträge über Schizophrenie-, Autismus- Depressions- oder Psychotherapieforschung geben. Besonders am Herzen liegt mir ein Referat des Niederländers Frank Verhulst über Kontinuität und Diskontinuität von psychischen Störungen bei Kindern. Verhulst konnte zeigen, dass der Anteil der bleibenden Symptome gegenüber jenen, die sich mit dem Heranwachsen der Kinder von selbst verflüchtigen, erstaunlich hoch ist.
Was schliessen sie daraus?
Dass frühzeitige Behandlungen richtig und wichtig sind. Davon wollte man noch vor einigen Jahrzehnten nicht einmal innerhalb der Medizin etwas wissen, geschweige denn in der Gesellschaft. Psychische Probleme von Kindern tat man als Entwicklungserscheinungen ab, im Vertrauen darauf, das sich das schon auswachsen würde. Dabei ist oft das Gegenteil der Fall. Unsere eigenen Studien im Kanton Zürich zeigen, dass jedes 5. Kind nach modernen fachlichen Kriterien eine psychische Störung hat. Aber nur 5% der Kinder gelangen in psychiatrische Betreuung. Es ist ein Ziel des Symposiums, auf dieses Missverhältnis einmal fachübergreifend aufmerksam zu machen.
Sie würden also für eine flächendeckende psychiatrische Versorgung der Jugend plädieren?
Im Grunde schon. Nehmen Sie nur einmal die verbreitete Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung ADHS: Die Folgelasten, die diese Störung nach sich zieht, wiegen weit schwerer als die Belastung durch eine konsequente frühzeitige Behandlung.
Was sagen Sie zur immer wieder gern geäusserten Polemik, die Psychiatrie erfinde immer neue Krankheitsbilder, damit ihr die Arbeit nicht ausgehe?
Ich glaube, dieses Vorurteil gründet in einer angstbeladenen Abwehrhaltung gegenüber der Psychiatrie. Es ist heute völlig haltlos. Die grosse Leistung der psychiatrischen Fächer in den letzten zwei Jahrzehnten war, dass ein Katalog objektiver Kriterien zur Bestimmung von Störungen geschaffen wurde. Die Faustregel lautet: Wenn ein Symptom zur Belastung für den Betroffenen oder für seine soziale Umwelt wird und seine Funktionstüchtigkeit in Schule oder Beruf beeinträchtigt, dann wird es behandlungsbedürftig.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft ihres Faches?
Psychiater und Therapeuten müssen flexibler werden, sie müssen in mehreren Therapieverfahren sattelfest sein. Und sie müssen sich auch mit dem vermehrten Einsatz von Psychopharmaka kritisch und kompetent auseinandersetzen. Das ist gerade in der Behandlung von Kindern noch immer ein Reizthema. Hier würde ich mich über einen Abbau von Ängsten auf allen Seiten freuen.